Demenz

 

Mir gegenüber im Fasanenweg hörte ich monatelang Umbauarbeiten im Badezimmer, die nicht aufhören wollten. Es war im Haus gegenüber, in der auch die kleine schwarze Katze mit den Knopfaugen zuhause war. Den Grund erfuhr ich erst später. Das Bad wurde behindertengerecht umgebaut. Die Frau, die ich als fröhliche Dynamikerin kennenlernte, sah ich immer seltener. Dann sah ich sie im Auto ihres Mannes auf dem Beifahrersitz hocken, wo sie unbewegt nach vorne starrte. Bald darauf erschienen täglich Personen der Pflege. Noch einige Monate später fuhr nachts ein Krankenwagen vor, und ein Sanitäter lud die Frau, versteift mit Beinen in Sitzhaltung als Leichtgewicht in den Krankenwagen ein. Aber schon am nächsten Tag wurde sie wieder zurück-gebracht. Da war wohl medizinisch nichts mehr zu machen.

 

Anderthalb Monate später sah ich vor meiner Haustür zwei weiße Eimer stehen mit der Adresse des Nachbarn, die bei mir von der Spedition aus Versehen abgestellt worden waren. Ich benachrichtigte den Nachbarn und trug mit ihm die Eimer in sein Haus gegenüber. Die Eimer enthielten Pulvernahrung, welche verflüssigt seiner Ehefrau eingegeben werden sollten. Bei der Gelegenheit zeigte er mir seine abgemagerte Frau unbeweglich im Sessel sitzend mit dem versteiften rechten Arm quer auf der linken Lehne. Sie zeigte keinerlei Reaktionen mehr auf das, was um sie herum vorging. Mein Nachbar, der sehr an seiner Frau hing, meinte zwar, dass sie noch etwas wahrnehmen könne, aber mein nüchterner Blick konnte feststellen, dass sie total versteift war. Nur der Verdauungsapparat schien noch in der Weise intakt zu sein, dass unten herauskam, was oben als Flüssigkeit eingegeben wurde. Ob es noch minimale Herzfunktionen gab, kann ich nicht beurteilen. Schonungslos ausgedrückt war sie gerade noch vegetativ lebend ohne Gehirnfunktionen. Es erschien noch regelmäßig drei Wochen weiter das Pflegepersonal, wohl bis zum Herzstillstand.

 

Dieses Erlebnis war nicht gerade motivierend, mich mit meinem eigenen mentalen Zustand zu beschäftigen.

Bereits im Jahr 2020 bemerkte ich, dass mein Gehirn nicht mehr so funktionierte wie es sein sollte. Einfälle hatte ich noch wie gewohnt, aber mit der Umsetzung haperte es.

In den zwei Jahren danach hatte ich mehrere mentale Aussetzer, bei denen ich für wenige Sekunden handlungsunfähig wurde. So hatte ich zwei Unfälle mit dem Fahrrad. Bei einem davon fuhr ich an einer Abbiegung sehenden Auges auf eine Bordsteinkante zu, unfähig zu reagieren, was mit einem Sturz mit leichter Verwundung endete. Als ich grade vom Einkauf bergauf nach Hause fuhr, kippte ich um, was diesmal blutiger abging. An einem anderen Tag hängte ich mich an meine Reckstange zum Aushängen, da hockte ich unvermittelt auf meinem Steiß am Boden. Ein anderes Mal saß ich im Auto, und 30 m. vor der Einmündung auf die B 10 sagte ich mir noch „Hier musst du aufpassen“, dann fuhr ich los, weil ich die Straße frei sah, und ein schwarzer PKW krachte in mein Auto, schleuderte mich auf die Seite, und ich blieb benommen mit leichtem Schleudertrauma hocken. Der Polizist, dem ich meine Schuld zugab, benachrichtigte einen Abschleppdienst, und ich verkaufte meinen Unfallwagen an die Werkstatt, wo er stand.

 

Mein Bruder berichtete mir, dass er im Auto vor einer roten Ampel bremsen wollte, aber nicht konnte. Der Aussetzer endete mit einem leichten Auffahrunfall. Bald darauf bekam er einen harschen epileptischen Anfall. Von einem Arzt bekam er ein Mittel verschrieben, das er regelmäßig einnehmen soll.

 

Schon seit einiger Zeit hatte ich Probleme mit der Reizüberflutung im Fernsehen. Die Tonqualität fand ich unterirdisch. Kleine Micros werden an die Brust der Interviewten als Resonanzkörper geheftet, was ohne Korrektur oft einen dumpfen Klang ergibt. Wenn dann noch schnell gesprochen wird, konnte mein mentaler Equalizer den Klang nicht mehr verständlich entzerren. Die Sprachhektik wurde mir zunehmend unverständlich. Bei Landschafts- und Tierfilmen, deren Qualität ich bewunderte, verdarb mir der ätzende Musikschleim, der über alles gegossen, und hochgezogen wird, wenn der Sprecher Pause hat, jeden Genuss.

Meist schaltete ich dann den Ton ab und ließ die Bilder für sich wirken. Bei Spielfilmen verstand ich nur noch Bahnhof.

 

Jetzt nahte die Weihnachtszeit 23, bei der es nur wenig erfreuliche Nachrichten gab, und aus dem Verhalten meiner Bekannten aus der Nachbarschaft musste ich folgern, dass bei mir bei körperlich eher überdurchschnittlich guter Verfassung etwas mental nicht in Ordnung ist. Ich entwickelte eine Psychose mit gedanklichen Gebetsmühlen, die ich jetzt als Kolbenfresser meiner beginnenden Demenz über zwei Monate lang verarbeiten musste. Ich konnte zu der Zeit nur noch stammeln.

Da auch gegen Ende des Jahres die Ladefunktion meines Fahrrad-Akkus ausfiel (programmierter Ausfall, kein Ersatz mehr lieferbar), fiel ich in meiner Panik im Internet auf Betrüger herein, die ein günstiges Elo-Fahrzeug anboten.
 

Dann kam am 3. Februar 24 als Höhepunkt der Krise ein Anfall, den ich als Gehirngewitter wahrnahm: Ich hockte nach dem Abendessen am Esstisch in ganz kommoder Stellung auf meinem Sessel, da schaltete mein Gehirn innerhalb einer halben Sekunde auf ein rauschendes Chaos um, ich war benommen und gelähmt. In meiner Umgebung sah ich die kontrastreichen bunten Kissen der Sitzbank verzerrt in den drei Spektralfarben, unten blau, in der Mitte grün, oben rot.

Nach etwa einer halben Stunde der Lähmung, in der ich nur noch meine Augen ein wenig bewegen konnte, prüfte ich, ob ich an meiner Lage etwas ändern könne. Meine Finger konnte ich als erstes wieder bewegen, danach gelang es mir, meine Hände von den Oberschenkeln wieder auf die Lehnen hochzuziehen. Dann versuchte ich aufzustehen: ging aber nicht, ich fiel immer wieder auf den Sitz zurück. Ich wollte dringend in die Horizontale ins Bett kommen. Wenn es nicht nach oben geht, vielleicht nach unten. Zum Glück hatte ich genügend Platz zwischen Sessel und Tisch. Am Boden angelangt kroch ich dann auf allen Vieren etappenweise alle anderthalb Meter dem Schlafzimmer entgegen. Dort gelang es mir mein niedriges Schaumstoffbett zu erklimmen, mich hinzulegen und zur Ruhe zu kommen. Am nächsten Tag ging es mir schon besser und ich war wieder einigermaßen handlungsfähig.

 

Das Erlebnis des vorherigen Abends empfand ich als reinigendes Gewitter. Ich ließ mich von einer Nachbarin zu meiner Hausärztin fahren. Dort bekam ich eine Überweisung an die Neurologie. Bei einem Anruf an der hiesigen neurologischen Praxis nannte man mir eine Wartezeit von 5 Monaten. Bei zwei weiteren Anrufen in anderen Praxen hob niemand ab; war wohl nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren, dass damals die Neurologie überlaufen war. Im Nachhinein bin ich ganz froh, nicht in einen stressigen diagnostischen und therapeutischen Strudel geraten zu sein. Die Nachwehen des Anfalls zeigten nach Rückfällen eine langsame Besserung, und meine Nachbarin, die bei Pfaff ein medizinisches Start-up betreut, war der Ansicht, dass meine Psychose mit dem Anfall als Höhepunkt nur indirekt einen Bezug zur Demenz habe. Ich fühlte mich danach auch irgendwie erleichtert.

 

Manifestationen meiner Psychose:

 

  Starke tägliche Stimmungs- und Befindlichkeitsschwankungen  Ein gebetsmühlenartiges Kreisen von kaum abstellbaren Gedanken und Begriffen (Mantras) im Leerlauf, Gegenmittel: Radiosprecher, Beruhigungsmittel             

Starren ins Leere, ohne etwas zufixieren 

Die Schaufensterkrankheit, bei der ich nach einer Geh/Laufstrecke etwas sehe, was ich  genauer in Augenschein nehmen sollte, was  aber banal ist und mich vor Überforderung schützt.

        Einengung des Erlebnishorizonts

        Entscheidungsschwäche mit viel hin-und-her

        Konzentrationsschwäche

        Inkontinenter  Harndrang vor allem bei Lageveränderung und Wassergeräuschen, welche schnelles Handeln erforderlich macht

        Verständigungsprobleme, vor allem bei schnellem sowie undeutlichen Sprechen und lauten Hintergrundgeräuschen

        Generelle Langsamkeit der Gehirnfunktionen, besonders des Gleichgewichtssinns, was ein vorsichtiges Vorgehen erfordert.

        Geschwätzigkeit bei Besserung

 

Mittlerweile denke ich, dass ich die akute Psychose weitgehend überwunden habe, und sie wieder langsam in eine gewöhnliche Altersdemenz übergeht, bin ich der Ansicht, dass es sinnvoller war und ist, mir selber Gedanken über meine Ausfälle zu machen, sie zu deuten und Konsequenzen daraus zu ziehen, als das im Stress den Ärzten zu überlassen.

Die ersten Anzeichen meiner Demenz wollte ich nicht einsehen und akzeptieren. Meine heutige Sicht: Ich habe mein Gehirn bei beginnender Demenz mit Eindrücken überfordert, sodass es zur Warnung kurzzeitig abschaltete. Die Ausfälle sehe ich als Summenbescheid der Überforderung aus alltäglichem Anlass. Dass ich als Konsequenz meinen Lebenswandel  der neuen Situation anpassen und meine Ambitionen reduzieren müsse (einen Gang zurückschalten). Wie ich im Internet erfuhr, gibt es bei Demenz kein Heilmittel, und abgestorbene Gehirnzellen erweckt keine Therapie zu neuem Leben.

Jetzt muss ich also langsamer werden und öfter Ruhezeiten einlegen. Vor allem muss ich meine Situation mit ihren begrenzten Möglichkeiten akzeptieren. Reisen hatte ich mir ja schon früher untersagt, und das Kalkhoff-Fahrrad steht jetzt in der Garage, ist ja sowieso ohne die Ladefunktion des Akkus so gut wie wertlos.

 

Es geht mir wieder besser, seitdem ich mich nur wenig außer Haus und Garten bewege, wo Reizüberflutung nicht zu befürchten ist. Die Aussetzer sind seitdem nicht wieder aufgetreten, soweit ich sie in meinem geruhsamen häuslichen Umfeld im Sitzen oder Liegen überhaupt hätte wahrnehmen können. Ich beachte jetzt auch die Warnzeichen wie Augenflimmern und Sterne sehen als Anzeichen von Überforderung.

Den Genuss von Alkohol habe ich stark reduzieren müssen, da er ähnliche Bewegungs- und Gleichgewichtsstörungen verursacht und verstärkt. Lediglich in der akuten Phase des Anfalls brauchte ich Mittel zum Einschlafen.

 

Gebrauchsanleitungen waren und sind für mich immer noch eine Heimsuchung, vor allem bei Geräten mit Multifunktionstasten sowie denen mit den vielen Optionen.

 

Nach den vielen Monaten danach betrachte ich meine Psychose als weitgehend abgeklungen. Dass ich Nervenärzte bisher nicht konsultiert habe, betrachte ich nicht als Mangel.

18.11.24