Ödipus, König von Theben

 

Laios, König von Theben, war aufgrund einer pädophilen Liebesbeziehung zu Chrysippos, Sohn seines Freundes Pelops in der Verbannung, bei den Göttern in Ungnade gefallen, nicht etwa wegen der Verletzung sexueller Normen, sondern weil er dabei gegen das Eigentumsprinzip verstieß: Er entführte Chrysippos.

Der Gott Apollon bestrafte ihn dafür mit der Prophezeihung, sein Sohn werde ihn dereinst erschlagen. Als Iokaste, seine Gemah-lin, ihm dann tatsächlich einen Sohn gebar, scheute sich Laios allerdings, gleich klare Verhältnisse zu schaffen - wie damals durchaus üblich. Anstatt dessen durchstieß er ihm sofort nach der Geburt die Füße und gab ihn einem Hirten zum aussetzen.

Auf der gemeinsamen Sommerweide fand ihn ein Hirte des Königs Polybos von Korinth und brachte ihn an dessen Königshof. Polybos und Königin Merope – dieweil kinderlos – adoptierten ihn, nannten ihn Ödipus (Schwellfuß) und zogen ihn als ihren eigenen Sohn auf. Als Jüngling protzte er wohl zu sehr mit der Würde eines Königssohns und wurde dafür von seinen Spielka-meraden mit dem Hinweis verspottet, er sei ja bloß ein untergeschobenes Kind. Doch weder Hänseleien noch seine verkrüp-pelten Füße waren für ihn ein Anlass, seine Eltern um Klarheit in dieser Sache zu fragen.

Er suchte die Wahrheit lieber in der Ferne, ging, sobald volljährig, nach Delphi, um das Orakel um Aufklärung zu bitten. Dieses nannte ihm allerdings nicht die Namen seiner wirklichen Eltern, sondern teilte ihm lediglich mit, er werde einmal seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten. Die Entscheidung, vor der er nun steht, bestimmt sein weiteres Schicksal und gibt Auf-schluss über seinen Charakter.

Mit dem Orakelspruch hatte er ein absolut sicheres Druckmittel in der Hand, um die Wahrheit von seinen Zieheltern zu erfahren. Und wenn sie auch seine wirklichen Eltern gewesen wären, zumindest einen Abend lang hätte er sich wohl beherrschen und danach immer noch verschwinden können, und jeder hätte Verständnis dafür gehabt.

Aber Ödipus weiß, daß er sich nicht beherrschen kann, ist auch an Klarheit nicht weiter sonderlich interessiert. Er will bloß eins: nichts wie weg von zuhause, weg von dem intriganten Hoftheater, weg von dem drohenden Unheil. Sein Schicksal selbst bestimmen, die Macht nicht durch Erbschaft sich in den Schoß fallen lassen, sie sich selber erkämpfen, das ist nun sein Ziel. Er wird es seinen neidischen Freunden schon zeigen, dass er kein Hänger und womöglich Erbschleicher ist. Im Freiheitstaumel marschiert er los.

Sein Selbstbewußtsein hat sich durch die Trennung vom Königshof mit seinen rituellen Zwängen ins Wahnhafte gesteigert. Da kommt ihm Laios in einem Wagen entgegengefahren. Seine Diener befehlen ihm den Weg freizumachen. Soll er gehorchen oder nicht? Bloß jetzt nicht als Duckmaus dastehen: das hier war die Situation, es sich und allen ein für allemal klarzumachen, dass man mit ihm rechnen muss. Er weicht keinen Schritt zur Seite, ein Wagenrad überrollt seinen Fuß. Der nur allzu vertraute Schmerz droht ihn für immer in seine Opferrolle zurückzuwerfen, der er eben erst zu entrinnen hoffte. Es wäre der Zusammenbruch seiner Hoffnungen, wenn er hier klein beigäbe. Lange zurückgedrängte Wut überschwemmt ihn. Diesmal nicht – ist sein einziger Gedan-ke. In besinnungsloser Wut räumt er die Szene ab: Laios wird erschlagen, die Diener ergreifen die Flucht. Wen er erschlug, weiß er nicht und interessiert ihn auch nicht.

Bald darauf – Laios ist gerade unter der Erde – kommt er nach Theben. Die Stadt wird von der Sphinx bedroht, ein tier-weibliches Ungeheuer am Wege lauernd, welches die Passanten, die ihr Rätsel nicht lösen können, vom Felsen stürzt. Sie weicht nur dem, der ihr Rätsel löst. Dem glücklichen Gewinner bietet die Stadt zur Belohnung die Königskrone an. Seine „Erfolge“ haben Ödipus so übermütig gemacht, dass er den Einsatz seines Lebens nicht scheut, um an dem Preisausschreiben um die Macht teilzunehmen. Die Sphinx stellt ihm folgende Frage: Welches Lebewesen geht am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf deren zwei und am Abend auf drei, aber mit den wenigsten Beinen ist es am schnellsten? Die intelligentesten Menschen müssten an dieser Frage verzweifeln, nicht jedoch Ödipus, denn es ist die Frage, die auf ihn gewartet hat: Beine, Füße, Fortbewegung, Schnelligkeit auf zwei Beinen, all das rastet in seine zentrale Fixierung ein. Es sind Reizworte, die er sofort auf seine persönliche Problematik eines Gehbehinderten bezieht. Er sucht erst gar nicht bei anderen Lebewesen, er sucht nur bei sich selbst, und genau das ist des Rätsels Lösung: Der Mensch, in der Jugend auf allen vieren gehend, im Alter den Stock zu Hilfe nehmend. Mit seiner Fixierung auf die Füße – früher Anlaß zu Spott und indiskreten Fragen – hat er nun zweimal Erfolg gehabt. Die Schmach ist getilgt, die Vergangenheit vergessen. Dem Elend entronnen hat er sein Glück gemacht. Die versprochene Herrscherwürde erhält er durch Einheirat in das Königsgeschlecht: er wird  der Gemahl von Iokaste. Diese Form der Herrschaftsvergabe (uxoriale Herrscherfolge) war seinerzeit als Reminiszenz an frühere frauenrechtliche Kulturen noch weit verbreitet. Von Liebe ist nirgendwo die Rede. Heiraten in der griechi-schen Oberschicht hatten damals viel mit Macht, Eigentum und Produktion von Erben zu tun, Liebesheiraten waren so gut wie unbekannt.

Ödipus ist auf dem Gipfel seiner Expansion. Die Ermittlungen in der Mordsache Laios werden eingestellt, Erkenntnisse von interessierter Seite vertuscht, die Zeugen der Tat ruhiggestellt. Dem Laios weint niemand eine Träne nach, Iokaste ist dankbar für das junge Blut in ihrem Ehebett und produziert weitere zukünftige Täter und Opfer. Kurzes Glück, dann holt Ödipus seine verdrängte Vergangenheit ein. Die Pest wütet in Theben, dazu eine Hungersnot. Das Orakel mahnt dazu: Der Mörder des Laios ist noch nicht gefunden.

Der öffentliche Druck steigt: ein Sündenbock muss her. Tiresias, als Blinder zum Seher geworden, wird herbeigeholt und beschuldigt Ödipus des Vatermordes und des Inzests. Ödipus glaubt noch an eine Verschwörung zu Gunsten des Oberintriganten Kreon, bis ihm der Bote des jüngst verstorbenen Königs Polybos – kein anderer als der Hirte, der ihn seinerzeit fand – die Krone von Korinth anbietet und ihm wegen seiner Weigerung, diese zu akzeptieren – Ödipus fürchtet noch immer den Orakelspruch – aufklärt, daß er gar nicht der leibliche Sohn von Polybos sei. Nun kommt schnell die Wahrheit ans Licht. Es ging nicht mehr um Totschlag im Affekt: heilige Sexualtabus waren verletzt, eine Sache von fundamentaler Bedeutung. Iokaste begriff schnell die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und erhängte sich. Ödipus hingegen zog es vor, sein Elend voll auszukosten. Tiresias war nun sein Vorbild: Er stach sich die Augen aus und degradierte sich damit selber zum Opfer. Endlich hatte er seine Rolle akzeptiert.

 

Als er zur Welt kam, war seine erste Erfahrung: Schmerzen, höllische Schmerzen, und das Alleingelassensein als blinder Säug-ling, die Unmöglichkeit, an seinen Schmerzen etwas ändern zu können. Er mochte schreien soviel er wollte, niemand hörte ihn. Die kindliche Psyche muss diese Erfahrung verarbeiten und zieht daraus den Schluss, dass es auf dieser Welt unmöglich ist, Schmerzen zu entgehen. Sie reagiert auf diese Herausforderung mit der bestmöglichen Lösung: Die Schmerzen werden ins sexuelle Programm übernommen. Wenn man sich an den Schmerzen aufgeilt, sind sie nicht nur leichter zu ertragen, sie werden zu einer Quelle der Lust.

Als die Schmerzen dann endlich nachließen und das Thronerbenprogramm anlief, waren die Basisstrukturen des seelischen Empfindens bereits geschaltet, hatte sich die Schmerzerfahrung schon unauslöschlich ins sexuelle Programm eingeschrieben. Die Möglichkeit die die Natur hervorgebracht hat, um eben nicht ein starres Verhaltensmuster unverändert von Generation zu Generation weiter zu geben (genetische Fixierung), sondern ein Maximum an Flexibilität in einer sich verändernden Umwelt bereitzuhalten, andererseits aber auch die Kontinuität des Verhaltens durch Verknüpfung mit der Sexualität zu sichern, man nennt sie Prägung, wendet sich hier gegen den Menschen. Er, der sich dadurch von anderen Tieren unterscheidet, dass sein Verhalten so wenig wie nötig fixiert und soviel wie möglich mittels Prägung frei programmierbar ist, nützt diese Möglichkeit auf das Schamloseste aus für Zwecke, die er für seinen Vorteil hält.

 

Der Auftrag, den der Vorgang der Prägung vermittelt, lautet: Geile dich an dem auf, was du vorfindest, und gib es so unverändert wie möglich an die nächste Generation weiter. Dieses sensible Instrument, für sich nur wenig und langsam verändernde Verhält-nisse gedacht, kann in einer Zivilisation des raschen Wandels, in der die Normalität ständig neu definiert werden muss, vermehrt sexuellen Extremismus hervorbringen.

So auch bei Ödipus. Die Schmerzen lassen nach, damit auch sein Lustgewinn. Das Unbewusste registriert solches mit Unbeha-gen und sucht den früheren Zustand wiederherzustellen. Das kann, wenn starke Hinderungsgründe vorliegen – wie hier z. B. große geistige und körperliche Kräfte und ein kollektives Bewusstsein, welches seine Aufgeilereien als schimpflich betrachtet, weil sie das Selbstverständnis unserer Zivilisation in Frage stellen – große Umwege erforderlich machen, bis der Zustand, der den Menschen geprägt hat, in der gleichen Zwanghaftigkeit wie ehedem wiederhergestellt ist. Bei Ödipus führt dieser Weg über die höchsten Gipfel dessen, was wir als Erfolg ansehen, bloß damit der Sturz dann umso unvermeidbarer wird. Die psychische Kraft, die solches bewerkstelligte, ist die Verdrängung.

Die Zwanghaftigkeit seiner Tragödie ist keine äußere – sein Schicksal war vermeidbar – sie ist eine innere. Sie folgt aus den Gesetzen der Prägung: Äußere Zwänge werden vorgefunden und in das psychische System integriert, d. h. zu inneren Zwängen gemacht. Diese wiederum trachten dann danach, in der Außenwelt die Zustände wiederzufinden oder herzustellen, die in der Prägungsphase der frühen Kindheit wirksam waren. Genau das tut Ödipus. Sein Akt der Selbstverstümmelung kann nur bei Betrachtung unter rein physischem Aspekt als Selbstkastration missdeutet werden.

Indem er auf jegliche physische Machtausübung verzichtet und seine Königsrolle als Irrweg denunziert, findet Ödipus zu seiner eigentlichen psychischen Potenz zurück: der Kraft, Leiden zu ertragen. Diese Kraft rührte seinerzeit König Polybos und Königin Merope (seine psychischen Eltern) das Herz und bewog sie, ihn zu adoptieren, und diese Kraft überzeugte auch jetzt. Er redu-zierte seinen physischen Wirkungsbereich, der einst so ungeheuer expandierte, auf einen kleinen Innenraum im Königspalast, wo er verfemt und gelegentlich auch als Opfer sadistischer Späße weiterlebte und wohl gebraucht wurde, denn sonst hätte man sich seiner bald entledigt.

Ödipus hat zu den Verhältnissen zurückgefunden, die ihn prägten: die Blindheit, das Ausgesetztsein, das grenzenlose Verlassen-sein, grauenvolle Schmerzen. Er hat sie wiedergefunden, weil er sie wollte, oder besser gesagt, wollen musste. Anders als Iokaste, die sich der gleichen Situation, welche sie als unerträglich empfand, durch Freitod entzog, dachte Ödipus nicht daran, die Zeit seiner Leiden zu verkürzen. Der Mythos spricht von einem langen Leben, und das wäre in seinem Verlies ohne psychische Stabilität kaum möglich.

 

Es wäre verfehlt, die Ödipus-Geschichte als einen Fall von hochgradigem Masochismus abzutun nach dem Motto: Gott sei Dank, ich bin nicht so. Nicht ohne tiefen Grund hat Siegmund Freud den Ödipus als zentrale Figur für sich selbst und unsere Zivilisation begriffen, auch wenn seine Deutung ziemlich daneben liegt. Die staatlichen Gesellschaften halten eine Vielzahl von möglichen Rollen bereit – müssen doch alle Werte, höhere wie mindere, auch von Menschen besetzt werden, und bedingen hochspeziali-sierte Tätigkeiten auch eine hochspezialisierte Sexualität --, aber das Gesetz der Prägung gilt gleichermaßen für alle: Die einmal in frühester Kindheit unbewusst angenommene Rolle muss jeder sein Leben lang weiterspielen, und wenn er denkt, er wäre ihr entronnen, ist  er in Wirklichkeit damit beschäftigt, sich selbst den womöglich endgültigen Beweis zu liefern, dass er dieser Rolle nicht entfliehen kann.

 

Ödipus stellt mit seinem Aufstieg, Fall und Leiden einen neuen Rekord auf. In einer Zivilisation, die den Superlativ verehrt – und jeder unserer Helden ist die Inkarnation eines Superlativs – gebührt auch Ödipus ein Platz im Pantheon der sexuellen Perversio-nen.

Vorbilder des Leidens sind immer gefragt, sind doch wir selber nur allzu bereit, die Leidensfähigkeit unserer Umwelt auszutesten, um daraus, wie wir wähnen, zu profitieren.

 

 

                                                                                                               Jürgen Karg, September 89

 

 

 

Nachtrag:

 

Ein weiterer umfassenderer Aspekt erscheint mir heute in Zeiten um sich greifender Schwarzseherei bedeutungsvoll : Wie seelischer Überschwang, sei es Euphorie oder Paranoia, genau das herbeiführt, was man unbedingt vermeiden will – die Gewalt. Dafür gibt es in der Geschichte und aktuell viele Beispiele: mordende Retter, Erlöser, Lebensschützer, Sittenbewahrer – gefährlich in der Erschei- nung psychischer Epidemien.

 

                                                                                                                                                                                           Januar 2016