Nachbars Katze

 

Die kleine Schwarze mit den Knopfaugen war bereits in den Abenteuern mit Schnurzel präsent. Die Tochter meines Nachbarn hatte sie gerade entwöhnt aus Bolivien mitgebracht, als sie hier noch bei Vater und Mutter wohnte. Als die Tochter sich verhei-ratete, ein Kind bekam, und in eine Etagenwohnung umziehen musste, konnte die Katze nicht mitkommen, da sie zur Freigän-gerin geworden war, und so wurde die Mutter zur Bezugsperson der Katze. Als diese dement wurde, und bis zum Tode gepflegt wurde, somit nicht mehr vorhanden war, hatte die Schwarze keine Bezugsperson mehr, und war fast nur noch draußen zu sehen. Der Nachbar hatte als Hundeversteher kaum einen Nerv für Katzen, wollte sie aber als Vermächtnis seiner Frau, die er sehr geliebt hatte, nicht abgeben, obwohl er bereits einen Behindertenausweis hatte. Er wohnte jetzt allein mit der Katze, und gab sie während eines Krankenhausaufenthalts in professionelle Pflege.

 

Danach trat ich in Aktion, da ich mir angesichts meines Gesundheitszustands -- Schnurzel war da schon anderthalb Jahre lang tot -- eine Katze aus einem Tierheim als Halter nicht mehr zutraute. Ich machte dem Nachbarn das Angebot der Versorgung seiner Katze, wenn er dazu nicht in der Lage sein sollte. Das nahm er gerne an.

 

Als er dann sich in Behandlung geben musste, taten wir etwas, dessen ich mich im Nachhinein schäme: Um der Katze zu zeigen, wo es etwas zu fressen geben würde, zwängten wir die Katze in einen Transportkäfig. Ich brachte sie dann in meine Pergola und stellte einen Futternapf vor den Käfig, ohne dessen Klappe sofort zu öffnen. Als ich wiederkam, hatte sie das Futter mit ihrer Tatze durch das Gitter verstreut. Als ich den Käfig öffnete, flüchtete sie sofort. Das Futter, das ich danach täglich in die Pergola hinstellte, war zwar schnell verschwunden, aber sie auch: Ich hatte es bei ihr verschissen. Und unsere Aktion war unnötig und schädlich gewesen, wie die weitere Entwicklung zeigte.

 

Um mich nach einigen Monaten wieder als Freund der kleinen Schwarzen einzuführen, schließlich war ich auch als Halter von Schnurzel Teil ihres Feindbilds gewesen, stellte ich vorausschauend im Winter jede Nacht einen Napf mit einem Katzenstick zunächst am Gartentor, dann jeweils an einem anderen versteckten Platz im Garten hin. Der Napf war dann am nächsten Morgen leer, wie gut ich ihn auch in meinem kleinen Garten versteckte.

 

Als sich dann im nächsten Jahr der Nachbar wieder in Behandlung begeben musste, war ich dann doch als Freund eingeführt, und sie schaute sich in meinem Haus um, bekam dort ihr Futter, und konnte so in ihrem gewohnten Revier bleiben.

 

Jetzt konnte ich sie näher kennenlernen. Sie ist sehr sensibel, scheu, leise und eine sanftmütige Bettlerin. Ich bin bei ihr nur als Futterlieferant von Interesse, und sie betrachtet Begrüßungsrituale als Gedöns. Sie kommt erst nach Aufforderung bei mir rein, und betrachtet sich immer als Gast. Auf einen Zischlaut, selbst auf einen leisen, reagiert sie sofort schreckhaft. Tagsüber und oft auch nachts bleibt sie draußen als typische Freigängerin. Ihrem Nachbar bleibt sie treu, obwohl es bei ihm nur Dosenfutter gibt. Mittlerweile dürfte sie 13 Jahre alt und von bester Gesundheit sein. Sie hat es geschafft, dass die Portionen aus den Beutelmäu-sen immer größer wurden, da es bei mir die leckeren Happen in Soße von Purina gibt. Davon kann sie nicht genug bekommen, und so belagert sie mich meist unsichtbar in meinem Garten, bei Regen in der Pergola, bis ich rauskomme. Wenn der Hunger drängend wird, lauert sie mir auch auf und wartet bei Blickkontakt auf mein bestätigendes Nicken als Aufforderung reinzukom-men. Ihr Verhalten kann ich nur taktvoll nennen. Sie wartet geduldig, wenn ich am essen bin, bloß wenn ich ihr den Futternapf bereite, kann sie es gar nicht mehr erwarten, und umkreist mit leiser Stimme maunzend und fiepend aufgeregt meine Beine. Sonst ist sie stumm und geduldig.

 

In letzter Zeit habe ich einen größeren Einblick in ihr Verhalten gefunden, und zwar bei gemeinsamen Nachtspaziergängen, die schon bei Schnurzel großen Anklang gefunden hatten. Das funktioniert aber nur, wenn es hinterher noch was zu futtern gibt. Wenn ich dann losgehe oder renne, weil mich der Bewegungsdrang antreibt, rennt sie bald hinter mir her, damit ihr die Köstlichkeit in Sauce der Nestlé-Corporation nicht entgeht. Dabei zeigt sie sich ungewohnt zutraulich.

 

Wohin soll es jetzt gehen? Bei Unschlüssigkeit und im Untersuchungsmodus wedelt sie mit dem Schwanz. Ich gebe ihr die Richtung vor und laufe los. Sie führt mich dann den Schwanz steil nach oben zu ihren liebsten Vorgärten, in denen sie schnuppern und sich vor Spätheimkehrern verstecken kann. Sie folgt mir jedes Mal bis an die Grenzen ihres Reviers. Darüber hinaus vorzudringen scheint ihr zu gefährlich zu sein, es gibt ja noch andere Katzen, die ihr Revier verteidigen und sich sogar furchtlos mir gegenüber blicken lassen. Aber in meiner Gesellschaft traute sie sich sogar, eine größere Katze zu verscheuchen, die sich in einem Hauseingang versteckte. Sie duckte sich anschleichend, den Schwanz waagerecht haltend. Dann preschte sie los und jagte die gescheckte Schönheit in einen Vorgarten, der ihr Deckung versprach.

 

Um die Katze nicht gänzlich dem Nachbarn zu entfremden, habe ich mein tägliches Futterangebot auf zwei Mahlzeiten, zusam-men etwa 150 g beschränkt. Da die Tür zum Garten jetzt im Sommer meist offen steht, kommt sie dann rein, und ich kann sie dann bei zu großer Gier mit leisem Zischen vertreiben, oder ich muss wieder den Futternapf füllen. Ansonsten gehört jetzt mein Garten zu ihrem Revier, und sie ruht sich dort auch aus.  15.07.24

 

Viele Pläne des Nachbarn, aus seinen vier Wänden herauszukommen, hatten sich zerschlagen. Deshalb wurde mein Angebot, die Versorgung bei Abwesenheit zu übernehmen, nicht genutzt. Die kleine Schwarze erschien zwar täglich in meinem Feinschmeckerlokal, benahm sich dabei mustergültig, aber bei mir gab es nur zweimal am Tag was in den Futternapf. Kam sie öfter, dann ignorierte ich sie; kam sie zur richtigen Zeit, dann begrüßte ich sie, oder pfiff sie herbei.

Die Abendspaziergänge hatten sich verflacht. Sie erschien dabei zur Begrüßung, lief auch eine Weile mit, aber dann war sie verschwunden. Nachts bekam sie noch Futter von ihrem Halter, und von mir nichts mehr. Auch wurde ein längerer nächtlicher Ausflug über ihr Revier hinaus zu einem Misserfolg, weil bei der Rückkehr ganz in der Nähe die Alarmanlage eines PKW ohne Anlass laut loströtete.

 

Dann meldete sich der Nachbar bei mir. Er hatte einen Termin in Frankfurt für eine Woche, und danach eine Reise nach Kolumbien zur Verwandtschaft seiner Tochter gebucht. Da solle ich die Versorgung übernehmen.

Ich konnte mit ihr nachts schon weiter in die Umgebung ausschwärmen. Sie hat jetzt ein starkes Motiv mir über die Grenzen ihres Reviers zu folgen. Ich merkte bald, dass es ihr Vergnügen bereitet, mit mir als Beschützer ihren Horizont zu erweitern. Ich kann zwar nicht riechen, was sie als Nachrichten alles erschnuppert, weiß aber, wo es Katzen gibt, die mal draußen zu sehen sind. Ich gehe oder laufe dann weiter, aber irgendwann ist sie wieder in meiner Nähe.

Mal sehen, ob daraus eine Tradition werden kann.   30.8.24

 

Eine Freilaufkatze, die auch meistens nachts draußen schläft, zeigt noch die wichtigsten Verhaltensweisen einer Wildkatze. Das ist vor allem die Unberechenbarkeit, die sie und ihren Nachwuchs schützt. Eine Tradition kann also der gemeinsame Spaziergang bei ihr nicht werden. Vor allem mag sie es nicht überwacht zu werden. Manchmal verkriecht sie sich in einem Vorgarten, bis ich weitergelaufen bin, um dann, wenn ich schon denke, dass sie nicht mehr nachkommt, plötzlich wieder aufzutauchen. Der Futternapf ist zwar ein starkes Motiv, aber sie hat mich schon oft den ganzen Nachtspaziergang begleitet, um dann bei der Heimkehr auf die Fütterung zu verzichten. Manchmal erscheint sie nur kurz zur Begrüßung und trollt sich dann wieder. Jüngst kam sie auch am Tag zu einem langsamen Gang durchs Viertel zur Begleitung vorbei, folgte mir bis in die Nähe der Landstraße, aber dann war sie wieder verschwunden.

Jetzt überwiegt ihr Interesse Neues zu entdecken die Beköstigung. Auf jeden Fall habe ich ihr Vertrauen gewonnen.     7.10.24

 

Bisher war die Abwesenheit des Nachbarn nur von kurzer Dauer gewesen. Als er jetzt zu einer längeren Reise angetreten war, zeigte sie sich zuerst bei mir weniger, aber am dritten Tag umso mehr. Sie brauchte offenbar Zeit, um sich mit der veränderten Situation abzufinden. Dann aber siegte der Hunger, und sie begann sich bei mir ein Plätzchen zu suchen. Im Haus sollte sie nicht ständig bleiben, das war auch nicht ihr Wunsch. Sie hatte auch schon das ideale Plätzchen für die Mittags- und Nachtruhe gefunden: hinter dem Vorhang in der Pergola. Dort konnte sie zu jeder Zeit wieder ausschwärmen und ihren Freiheitsdrang ausleben. Wenn ich morgens aufstand und ans Fenster zur Pergola ging, sah ich sie dort auf dem Tisch liegen. Wenn ich dann das Fenster öffnete, kletterte sie gleich auf die Fensterbank. Dort konnten wir uns fast auf Augenhöhe begegnen, und ich nutzte die Gelegenheit, ihr Fell zu streicheln und genauer zu untersuchen. Sie lässt es sich gerne gefallen - der Schwanz steht hoch - aber vordringlich ist ihr Wunsch, den Boden zu erreichen. So lange ich mich mit ihr beschäftige, kann sie nicht auf den Boden springen, wozu sie genau Maß nehmen muss. Ich darf allerdings ihre kostbare Zeit nicht übermäßig in Anspruch nehmen, da der Futternapf lockt.

Die Zeit bei mir verlief prolemlos. Den Futternapf serviere ich immer nur draußen zum Zeichen, dass sie zu mir als Gast kommt.

 

Nach einem Monat kam der Nachbar wieder aus Kolumbien zurück. Ich merkte es schnell, dass sie nun weniger die Beutelkost bei mir abschnorrte. Sie bekam vermutlich jetzt bessere Kost als früher, und übernachtete wieder bei dem nasskalten nebligen Wetter wie gewohnt zuhause. Zunächst verhielt sie sich bei mir wie gewohnt, machte nachts auch wieder Spaziergänge mit mir, aber nur unregelmäßig. Ich denke jetzt, dass sie begriffen hat, dass ich nur der Ersatzversorger sein wollte, und sie Gast ist.

 

Jetzt in der Novemberkälte lasse ich die Tür zum Garten geschlossen. Sie kommt aber noch täglich zum Futterempfang in den Garten, setzt sich in Positur aufs Beet mit Blick auf das Fenster, an dem ich frühstücke, wartet auf den Blickkontakt und meine Einladung durch ein Zeichen oder Klopfen ans Fenster, dann sprintet sie zur Tür. Ich lasse sie rein, dann wartet sie in Deckung unter einem Stuhl, dass ich in die Küche gehe, um den Futternapf zu füllen. Ist sie sonst die Geduld selber, kann sie es nun kaum noch erwarten und maunzt mit ihrer piepsigen Stimme voller Ungeduld. Mit dem Futternapf gehe ich dann nach draußen, dann stürzt sie sich auf ihn. Ich darf sie dann noch kurz streicheln und mich dann verdrücken. Es ist ihr am liebsten draußen zu futtern dann kann sie gleich wieder in Freiheit losziehen.

 

Betrüblich finde ich jetzt, dass der Nachbar durch sein Verhalten ohne Aussprache die Vereinbarung mit ihm, mich zum Einkauf bei LIDL zu kutschieren, gekündigt hat. Vielleicht haben ihn meine Großeinkäufe als im Auto wartender Behinderter überfordert, oder es ist eine Unverträglichkeit der Charaktere. Es war wohl auch seine letzte geplante Reise gewesen. Seine Katze kommt aber noch täglich zu mir, weil es ihr zum Gewohnheitsrecht geworden ist, das ich nur aus triftigem Grund kassieren will und kann. Sie ist jetzt 14 Jahre alt, in Menschenalter umgerechnet ca. 65 Jahre. Wer weiß, was die Zukunft noch bringt.   16.11.24