Seht her, welch ein Wachstum!

 

  Die Botschaft der Krebszellen.

 

 

Wir hatten es nicht leicht. Mühsam und voller Rückschläge war unser Aufstieg. Viele, die vor uns mit der gleichen Idee angetreten waren, scheiterten kläglich. Ihre Idee war richtig, aber der Versuch, sie durchzusetzen, scheiterte an widrigen  Umständen, die bis heute nicht restlos geklärt sind. Chemische Ablagerungen und Verlautbarungen der Kräfte, die den Widerstand gegen uns immer noch nicht aufgegeben haben, legen die Erklärung nahe, dass seinerzeit das Früherkennungssystem für abweichendes Zellverhalten besser organisiert war, unsere Vorläufer somit schnell isoliert und der Vernichtung preisgegeben waren. Wir hingegen kamen nicht nur mit der richtigen Idee, wir kamen auch zu einem günstigen Zeitpunkt und hatten uns hervorragend getarnt. Nun, da wir die Früchte unserer Anstrengungen genießen und die Herrschaft über das uns bekannte Universum übernommen haben, betrachten wir die letzten Zweifel an den Prinzipien unserer Herrschaft als ausgeräumt und verkünden sie allen interessierten Kräften zur Nachahmung. Mit unserer Machtübernahme beginnt das neue Zeitalter des Krebses; das der Unsterblichkeit, des ewigen Wachstums, der ewigen Werte. Letztere bezeugt unser Wahlspruch: „Macht euch den Körper untertan!“.

Unsere gemeinsame Ahnfrau - sie ist nie gestorben, und lebt dank unausgesetzter Teilung in uns allen fort - war zwar bei weitem nicht die erste, die den genetischen Weitsprung von einer ordinären Zelle zur unsterblichen Krebszelle schaffte: Tausende andere müssen vor ihr den Programmsprung versucht haben, der den Ausstieg aus den starren Zwängen der genetischen Fixierung bedeutet. Sie war aber die erste, die ihren Herrschaftsanspruch materiell begrün-den und in einer ihr feindlich gesonnenen Umwelt gegen stärkste Widerstände durchsetzen konnte. Der Zeitpunkt ihrer Mutation begünstigte sie zwar -- die körpereigenen Abwehrkräfte waren gerade mit einer groß angelegten Virusinvasion beschäftigt --, die Sicherung ihres Herrschaftsbereiches und ihr und damit unser aller Überleben und Vermehrung wurden aber erst ermöglicht durch Mobilisierung und Einsatz überlegener Mittel, mit denen sie ihre Umgebung zwang, ihr zuzuarbeiten und unseren Aufstieg zu ermöglichen. Diese Mittel sind beispielhaft, und wir werden nicht müde sie zu verkünden: Zunächst die Akkumulation von Lebensmitteln, welche die Voraussetzung für unsere starke Vermehrung war, da ohne Überschuss kein Wachstum möglich ist und ohne Wachstum keine Herrschaft. Der Programmsprung, der Ausstieg aus allen genetischen Wachstumshemmungen, welche gewöhnliche Zellen an ungebundener Vermehrung hindern und sie nach einer gewissen Zeit oder Anzahl von Teilungen abschalten, konnte unserer  Mutterzelle nur dann von Nutzen sein, wenn es ihr gelang, ihren hohen Energie- und Nahrungsbedarf zu decken und sich dabei vor feind-lichen Angriffen zu schützen. Dieses gelang ihr aufgrund der Erfindung und Entwicklung neuer chemischer Angriffs- und Verteidigungswaffen, mit denen sie schnell die Kontrolle über ihre nähere Umgebung gewann und sie dazu zwang, sich ihren Bedürfnissen unterzuordnen und sich für ihre Ziele der Vermehrung und der Machtübernahme ausbeuten zu lassen.

Wir wollen an dieser Stelle nicht die mannigfachen Heldentaten schildern, nicht die vielen Abwehrschlachten gegen die wieder erstarkten Körperkräfte, nicht die genialen Lösungen der Energieprobleme während unserer Wachstumsphasen, nicht wie es gelang, bei sich erschöpfenden Rohstoffen uns stets wieder neue  zu erschließen.Wir können auf Heroisie-rung unserer Tätigkeit verzichten: Die Bilanz unseres Erfolges ist überzeugend genug.

Nachdem sich unser Konzept (Wucherungsprinzip) auf lokaler Basis als tragfähig erwiesen hatte, und daselbst unsere Stellung uneinnehmbar geworden war, entdeckten und nutzten wir vorhandene Verkehrswege, um uns neue Stütz-punkte im Körper zu schaffen und somit weitere Wachstumsfelder zu erschließen. Zugegeben, es gab immer wieder ökologische Krisen: Einige Bereiche des Körpers weigerten sich unsere Herrschaft anzuerkennen und zogen es vor auszusterben. Aber auch diese Krisen bekamen wir stets in den Griff, und da, wo wir einmal Fuß gefasst hatten, waren wir nicht mehr zu vertreiben. Fehlschläge führten bei uns nie dazu, dass wir etwa weitere Projekte aufgegeben hätten, sondern motivierten uns nur umso mehr, unser Herrschaftssystem zu verfeinern und die Anpassungsfähigkeit an oftmals recht unterschiedliche Lebensbedingungen in verschiedenen Regionen des Körpers zu steigern. Nachdem wir jüngst in einen chemischen Krieg mit Giften, die uns bislang unbekannt waren, verwickelt wurden und dabei große Verluste und einen wirtschaftlichen Einbruch sondergleichen zu verzeichnen hatten, haben wir uns mittlerweile von diesem Schlag erholt und stellen fest, dass auch er lediglich unsere Widerstandskraft erhöht und die Voraussetzung für eine neue Wachstumsphase geschaffen hat, in der wir uns jetzt wieder befinden.

 

Wir sind nunmehr überzeugter denn je, die Situation im Griff zu haben und auch alle zukünftigen Gefahren mit unseren bewährten hoch wirksamen Techniken des Krisenmanagements abwehren zu können. Noch sind einige Schlachten zu schlagen, aber die Erfüllung unseres Wahlspruchs ist in greifbare Nähe gerückt. Nichts kann uns jetzt mehr aufhalten, und unsere Herrschaft verheißt Frieden und Wohlstand für alle unsere Freunde.

 

 Andreas Fischinger zum Gedächtnis, Okt. 90