Aversionen und Allergien
Allergien habe ich bei mir nicht feststellen können, dafür einige Aversionen, die mir lange Zeit rätselhaft blieben.
Spinat lehnte ich ab, ohne zu wissen warum. Bis mir meine Mutter, die ich befragte, erzählte, dass ich diese in der Kriegszeit wertvolle vitaminreiche Kost bei der Abfütterung in meine Backen gestopft habe, bis die Kapazität erschöpft war. Dann habe ich sie herausgeprustet, mir aufs Lätzchen und Mutter auf den Kittel.
Meine Mutter verhielt sich streng nach den Maßgaben eines Buches über die Säuglingspflege. Ich nehme an, dass ich da um das Selbst-, zumindest aber Mitbestimmungsrecht bei der Nahrungsaufnahme kämpfte. Mutter war besorgt über meine asthenische Konstitution mit leichter Rachitis und wollte da unbedingt Abhilfe schaffen. Ich aber sah nur meine Chance, mich gegenüber meiner Mutter zu behaupten, in der Nahrungsverweigerung. Erst mit dreißig Jahren brachte ich meinen Widerwillen zur Sprache, und Mutter klärte mich auf. Seitdem esse ich öfter Spinat, und er schmeckt mir gut.
Schwieriger herauszufinden war der Grund für meine Aversion gegen dunkelgraue Handschuhe. Mich wurmte, dass ich sie nicht anziehen konnte, weil die braunen Lederhandschuhe doppelt so teuer waren. Dann kam mir die Erinnerung hoch: Ein Kriegsversehrter, den meine Großmutter kannte, kam zu Besuch. Er war das Gegenteil von rücksichtsvoll. Um mir zu zeigen, was der Krieg bei ihm angerichtet hatte, hielt er mir seine leblose Kunsthand aggressiv unter die Nase, so dass ich Angst bekam. Die Prothese war mit einem anthrazitgrauen Handschuh bekleidet. Als mir der Zusammenhang klar wurde, ging ich am nächsten Tag ins Kaufhaus und legte mir ebensolche Handschuhe zu.
Deutlich schwieriger ist an Allergien heranzukommen, wo der Körper die Macht übernommen hat.
Meine Wohnungsnachbarin im Stuttgarter Westen, mit der ich mich gut verstand, schilderte mir ihre Wohnstauballergie. Sie konnte in ihrer Wohnung keine Teppiche legen, nicht staubsaugen und fegen, sondern nur aufwischen. Sie fand das bedauerlich. Da ich schon vermutete, dass ihre Allergie ähnliche Ursachen wie meine Aversionen haben könnte, fragte ich sie nach Konflikten in ihrer Kindheit. Sie erzählte, dass ihre Mutter oftmals mit einem Lappen bewaffnet überraschend in ihr Kinderzimmer eingedrungen sei, um dort Staub zu wischen. Sie habe schon damals den Eindruck gehabt, dass die Aktionen der Mutter nicht der Sauberkeit dienten, sondern vielmehr ihrer Überwachung. Nach ihrem späteren Auszug sei der vorgebliche Putzfimmel ihrer Mutter erloschen. Sie habe sich gegen die Übergriffe nicht wehren können. Sie stimmte meiner Ansicht zu, dass unausgetragene Konflikte und Machtfragen in der Kindheit der Anlass zur Entwicklung einer Allergie sein könnte. Diese Erkenntnis konnte allerdings ihre Allergie nicht heilen. Diese hatte sich wohl aufgrund der Vielzahl von Übergriffen zu tief eingebrannt. Der Konflikt durfte wegen ihrer Abhängigkeit sich nicht gegen die Mutter wenden, sondern pars pro toto gegen das, was ihr Körper als Ursache wahrnahm.
Ich erzählte einem Freund von dieser Hypothese. Er stritt sie vehement ab mit dem Hinweis auf seine Baumharzallergie, die ihm völlig unerklärlich sei. Er berichtete von seinem Martyrium mit Zahnfüllungen. Nach dem ersten Besuch beim Zahnarzt: Revolte im Mundbereich und allergische Reaktionen im ganzen Körper. Dann die Füllung wieder raus und eine andere rein: das gleiche Ergebnis. Erst die dritte Füllung, diesmal ohne Baumharz, brachte die Erlösung. Eine Baumharzallergie ist insofern ein Hohn, als Baumharz antiseptisch wirkt, was die Bernsteineinschlüsse zeigen.
Dann meine Frage: Habe sie mit unangenehmen Vorkommnissen im Wald oder beim Sägen zu tun? Nein, bestimmt nicht!
Da wusste ich auch nicht weiter.
Dann kam es zu höchst seltsamen Begegnungen. Ich traf ihn mit seiner Freundin innerhalb eines Monats dreimal an einem der Bärenseen an der gleichen Stelle +/-10 Meter an unterschiedlichen Wochentagen und etwas unterschiedlicher Zeit, ich als Radfahrer, sie zu Fuß. Als seinerzeit esoterisch Denkender war das ein Hinweis, dass ich mich näher mit der Angelegenheit beschäftigen sollte.
Bei seinem nächsten Besuch gingen wir die Stoffe durch, die alle Baumharz enthalten und die er meiden müsse. Es waren erstaunlich viele. Ein Stoff fehlte allerdings, der mir als Musiker (besonders als Streicher) zum täglichen Handwerkszeug gehö-rend wohlbekannt war: Kolofonium. Dieses Wort brachte seine Erinnerung auf die Spur.
Als Kind gutbürgerlicher Eltern hatte er Violinuntericht zu nehmen. Seine Eltern hatten ihm einen Lehrer vorgesetzt, der stark sadistische Züge erkennen ließ. Mein Freund hatte wenig Interesse an Musik, um so mehr an bildhafter Kunst. Er ließ sich viel zu lange mit der ungeliebten Geige quälen, bis er ausrastete und eine große Vase zertrümmerte. Das war dann das Ende seiner musikalischen Tätigkeit, aber das Unglück war schon geschehen. Beim Geschabe auf der Geige werden feinste Kolofonium-partikel frei, und zwar direkt neben der Nase. Der Körper identifizierte als Ursache der seelischen Bedrängnis den Baumharzstaub: Kolofonium besteht zu 98% aus Baumharz. Damit war dann wohl der Zusammenhang geklärt, dem auch mein Freund zustimmen musste. Aber das war noch nicht alles. Er schob noch seine Allergie auf Parfüms nach. Ich fragte daraufhin, ob sein Quälgeist sich auch parfümiert habe: Ja. Damit war die Ursache oder zumindest der Anlass seines Leidens wohl geklärt.
Wie er mir kürzlich berichtete, verlief sein weiterer Krankheitsverlauf widersprüchlich und chaotisch. Zunächst näherte er sich mental konzentriert und behutsam Materialien, die Baumharz enthalten, und die allergischen Reaktionen ließen nach. Er sei danach leichtsinnig geworden und habe einen Holzfußboden abgezogen, wonach seine Krankheit noch einmal heftig ausbrach. Danach seien alle seine Allergien verschwunden, darunter auch eine Allergie gegen Katzenhaare. Allerdings sei in dem zeitlichen Zusammenhang eine seltene Herzrhythmusstörung lebensgefährlich ausgebrochen. Wieso dann alle Allergien verschwunden seien, bliebe unklar.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass eine chronische Krankheit (Arthrose seit über 30 Jahren) mir andere regelmäßige Krankheiten (z.B. Grippe) fernhält, sofern ich sie als meinen Ratgeber sehe, nicht aggressiv mit Hilfe eines Arztes und seiner Medizin die Krankheit klein halte, sondern die Grenzen, die sie mir setzt, akzeptiere. Ich erkläre mir das so, dass die chronische Krankheit das Immunsystem auf Trab hält, und anderes nicht hochkommen lässt.
Bei einer Allergie sehe ich andererseits die Möglichkeit, dass ein übereifriges Immunsystem, in der Kindheit aufgrund übertriebener Sauberkeit und aus Mangel an echten Herausforderungen fehlgeleitet, sich imaginäre Feinde sucht, und dann durch eine andere Krankheit so hinreichend beschäftigt ist, dass es nicht mehr unsinnigerweise den eigenen Körper angreift. Aber das ist Spekulation.
Was mir offensichtlich erscheint: Genetische Faktoren bestimmen die Neigung zu Allergien, aber lösen sie nicht aus. Das bewirken traumatische Ereignisse in Verbindung mit Gegenständen oder Stoffen, welche dabei zugegen sind, und die der Körper als Ursache in Fehlinterpretation wahrnimmt.
Aber das bedarf alles noch weiterer Ursachenforschung, welche nicht eindimensional sein kann.