Die Säftelehre - eine Haltlosigkeit

 

             Herkömmliche Deutungen des Temperamentenrätsels

 

Als ich mich mit den Vier Temperamenten befasste, und darüber meine Abhandlung niederschrieb, habe ich die herkömmliche Temperamentenlehre nur am Rande gestreift, da ich sie nicht als zielführend ansah. Sie schien mir in fehlerhafter Beliebigkeit frei in der Luft zu schweben. Immerhin gilt diese Theorie als erste, welche versuchte die Vielfalt der menschlichen Verhaltensweisen zu systematisieren, und damit als Begründung der Psychologie. So stammen die Bezeichnungen der vier Temperamente bis heute aus der Säftelehre. Da diese Theorie der wissen-schaftlichen Falsifizierbarkeit ermangelte und sich deshalb nicht in den vielen Jahrhunderten seitdem weiterentwickeln konnte, wurde sie in den Bereich der Esoterik verwiesen, wo man auf Beweise verzichten kann. So schmort die antike Säftelehre noch immer im eigenen Saft, und es wird leeres Stroh gedroschen und Papier produziert in der Hoffnung, dass ein Kunde anbeißt.

 

Was mir auffiel: Reale Personen tauchten in den Beschreibungen, die ich im Internet und in meinem Gästebuch fand, nicht auf. Ich fand lediglich überdeutliche zeichnerische Darstellungen, die mich an Karikaturen gemahnten, sowie charakterliche Beschreibungen der Temperamente, die mir wenig schlüssig, wenn nicht sogar falsch erschienen.

 

Ich zitiere hier Charakterbeschreibungen der Temperamente ohne Namensnennung, die ich Einträgen in meinem Gästebuch entnehme:

 

Sanguiniker

 

Verspielt, überzeugend, fröhlich, gesprächig, beliebt, kontaktfreudig, optimistisch, gesellig, spontan, lustig, lebhaft, erfrischend, anregend, munter, überschwänglich, gutmütig, sorglos, hoffnungsvoll, zufrieden … aber auch naiv, inkonsequent, rastlos, wankelmütig, reizbar, nachgiebig, unverschämt, undiszipliniert, vergesslich, willkürlich, unberechenbar, redselig, unorganisiert, angeberisch, zerstreut, oberflächlich, aufdringlich


Sanguiniker kommunizieren mimisch und gestisch expressiv, sprechen mitreißend und warmherzig, nehmen es dabei aber mit der Wahrheit nicht immer ganz so genau. Sie haben selten die Ruhe aufmerksam zuzuhören, lassen sich leicht ablenken und wirken unkonzentriert. Sie versuchen mit möglichst vielen Menschen in Kontakt zu kommen und stehen dabei gerne im Mittelpunkt, da viele von ihnen süchtig nach Anerkennung und Bewunderung sind. Sanguiniker können andere verletzen, ohne es selbst zu merken. Obwohl Sanguiniker mitfühlend sind und einen großen Freundes- und Bekanntenkreis haben, sind Freundschaften mit ihnen jedoch oft oberflächlich. Sie sind wenig zuverlässig und vergessen oft ihre Verabredungen und Versprechungen, weil sie unorganisiert und undiszipliniert sind. Leicht sind sie für Neues und Unbekanntes zu gewinnen und haben die Gabe, eine motivierende Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Leider beenden sie selten Projekte und erreichen daher auch kaum ihre Ziele. Ideen zu haben und andere davon zu überzeugen bereitet ihn mehr Freude als zu arbeiten.

 

Phlegmatiker

 

Eigenschaften: Anpassungsfähig, geduldig, tolerant, schüchtern, beständig, diplomatisch, vermittelnd, humorvoll, verbindlich, beherrscht, zurückhaltend, friedlich, ausgeglichen, genügsam, freundlich, vernünftig, beharrlich, ruhig … aber auch zweifelnd, starr, sorgenvoll, unbeteiligt, zögernd, lässig, ziellos, unschlüssig, ängstlich, langsam, unauffällig, gleichgültig, träge, widerwillig, begeisterungslos, spröde, zaghaft, unterwürfig


Phlegmatiker sind friedliebend, ruhig und meistens mit allem so zufrieden, wie es gerade ist. Sie halten einmal akzeptierte Arbeitsläufe zuverlässig ein und eignen sich daher für Spezialisten-Tätigkeiten. Jeden Tag vor neue Probleme gestellt zu werden, die Änderungen und Kreativität erfordern, ist ihnen ein Greuel. Er ist nicht gerade begeisterungsfähig und braucht oft Druck, um zügig zu arbeiten, da er am liebsten möglichst wenig tut. Durch seine Passivität und Gleichgültigkeit, kann er andere schnell entmutigen und dann auch selbstgerecht wirken. Ein Phlegmatiker ist ein guter Diplomat und Friedensstifter, da er gutmütig ist und mit anderen unkompliziert auskommt. Er lacht selten laut, ist dafür aber bekannt für seinen trockenen Humor. Manchen wird auch ein Hang zum Geiz nachgesagt.

 

Choleriker

 

Eigenschaften: Ehrgeizig, direkt, mutig, willensstark, produktiv, unabhängig, abenteuerlustig, selbstständig, sicher, selbstbewusst, überzeugend, energisch, hartnäckig, bestimmend, einfallsreich, entscheidungsfreudig, aktiv, hitzig … aber auch dreist, manipulierend, überheblich, arbeitssüchtig, dominierend, abweisend, ungeduldig, streitsüchtig, herrisch, stolz, dickköpfig, unbesonnen, intolerant, stur, taktlos, egozentrisch, hitzköpfig, theatralisch

 

Der willensstarke und durchsetzungsfähige Choleriker ist eine ideale Führungspersönlichkeit. Er sprüht vor Ehrgeiz, trifft schnell und sicher Entscheidungen, langweilt sich jedoch schnell bei Einzelheiten. Da er sich selten entmutigen lässt und Autorität beansprucht, erreicht er seine Ziele oft. Choleriker haben jedoch in der Regel wenig Mitgefühl und lieben mehr sich selbst als andere. Dass sie die Nöte anderer Menschen selten spüren, erleichtert es ihnen, ihre Mitmenschen auszunutzen, wenn es ihren Interessen dient. Cholerikern fällt es schwer, sich auszuruhen und nichts zu tun. Sie sind in der Regel dominant, manchmal auch streitsüchtig und fanatisch. Zusammen mit seinem wenig ausgeprägten Willen zu vergeben und seiner geringen Frustra-tionstoleranz führt dies schnell zur Rachsucht. Außerdem haben sie oft eine Neigung sich im schönen Schein zu sonnen.

 

Melancholiker

 

Unter den vier Temperamenten nimmt die Melancholie, im Hinblick auf Anzahl und geistige Komplexität der Bilddarstellungen, einen Sonderplatz ein. Schon Aristoteles meinte, dass diese Komplexion, je nach Mischungsverhältnis und Temperatur der "schwarzen Galle", sowohl zu genialen Leistungen wie auch zu depressiver Tatenlosigkeit führen könne. Das Mittelalter achtete sie besonders hoch, weil sie die fromme Kontemplation begünstige. Ihr Doppelwert wurde, wie die polare Wertung des dazugehörigen Planeten Saturn, besonders im Neuplatonismus der italienischen Frührenaissance herausgearbeitet. Bis in das 18.Jh. wirkte der Gedanke nach, die Melancholie sei dem Denkenden eine Wohltat, deren unheilvolle Kehrseite durch Medikamente, Musik, astrologisch-magische Vorkehrungen im Zeichen des Jupiter bekämpft werden könne.

 

Die Bilddarstellungen seit dem Mittelalter gehen in Haltung und Stimmung stets von dem Aspekt der Passivität und des Trübsinns aus. Der Melancholiker (oder die weibliche Personifikation) sitzt (viel seltener liegt) und stützt den Kopf auf die Hand. Zu den Attributen gehören: Flügel, ein Buch, die Instrumente des Astronomen oder des Geometers, Musikinstrumente, eine Geldbörse, ein verdorrter Baum, Todessymbole, ein Säulenstumpf.

 

Der Melancholiker sucht vor allem die Ruhe. Für ihn sind beispielsweise Jobs im Büro oder in der Forschung ideal. Begibt sich dieser nun beispielsweise in einen Job, in dem man ständig kämpfen muss, ist das für ihn purer Stress. Er landet möglicherweise im Burn-out, weil ihm diese Lebensweise absolut nicht entspricht. Ein Choleriker fühlt sich unter diesen Bedingungen dagegen pudelwohl.

 

 

Mein Kommentar zu diesen Einschätzungen

 

Wenn ich mich selber als Sanguiniker ansehen soll, so stimmen meine Eigenschaften weitgehend (etwa zu 80%) mit den obigen Beschreibungen überein. Zu 20% stimmen sie nicht. Bei den Phlegmatikern sollte es ähnlich sein.

 

Problematisch wird es bei den Cholerikern und Melancholikern. Bei den Cholerikern sehe ich die Stimmigkeit bei 60%, da es sich in meiner Einschätzung in Wirklichkeit um zwei Temperamente handelt, die in ihrer feindlichen Einstellung sich aufeinander beziehen, also eine Mischkategorie. Noch prekärer ist die Situation bei den Melan-cholikern, die ich überhaupt nicht als Temperament ansehe. Als temporäre Gemütsverfassung, welche alle Temperamente betreffen kann, vor allem ältere Menschen, macht Melancholie noch Sinn, aber als Tempera-mentkategorie nicht. Melancholikern bin ich noch nie begegnet, und als Kinder kann ich sie mir gar nicht vorstellen, wohl aber als ein Zustand der Desillusionierung nach traumatischen Erlebnissen (z.B. Lebensmittekrise). Auch dass "die Melancholie dem Denkenden eine Wohltat sei, deren unheilvolle Kehrseite bekämpft werden könne", deutet darauf hin, dass es sich nicht um ein Temperament handelt, da Temperamente nicht bekämpft werden können.

 

Um die Haltlosigkeit der Säftelehre zu verdeutlichen, möchte ich das Albtraumpaar Putin/Prigoschin anführen, das zur Zeit, in der  ich dieses schreibe, in allen Medien ausgeschlachtet wird. Beide lassen sich nur dem Temperament Choleriker zuordnen. Dabei sind sie als Borderliner von extrem unterschiedlichem Temperament. In meiner von R. A. Wilson übernommenen Diktion firmiert Putin unter Feindliche Stärke, Prigoschin unter Feindliche Schwäche.

 

Grundsätzlich lassen die obigen Typenbeschreibungen außeracht, dass alle körperlichen, charakterlichen und geistigen Werte sowie alle Berufe und Berufungen von allen Temperamenten besetzbar sein müssen, und auch besetzt werden. Solche Beschreibungen sekundärer Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen können daher nur annähernd stimmig sein.

Die Säftelehre kann also die vier Temperamente nicht abbilden. Sie spukt aber als unerledigtes Problem in der Psychologie herum.

 

Da die Beschreibungen und Zuordnung konkreter Personen, sei es aus Gegenwart und Vergangenheit, peinlichst vermieden wird, muss alles im Ungefähren bleiben. Um überhaupt einmal Boden unter die Füße zu bekommen, nehme ich mir das Gemälde Die vier Apostel von Albrecht Dürer vor, auf welche Darstellung man sich als zutreffend für die Temperamentenlehre geeinigt hat. Auch ich stimme damit überein.

 

 

Die beiden Bildtafeln Die vier Apostel vollendete Dürer 1526 als letztes großes Werk, das er dem bereits protestantischen Nürnberger Magistrat schenkte, ohne die Apostel zu benennen. Selbiges geschah erst 1538 auf einer kirchlichen Synode, bei der sie links in den farbigen Gewändern die beiden Apostel Johannes und Petrus bezeichneten, rechts in schwarz-weiß den Evangelisten Markus und den Apostel Paulus.

 

Die Namensgebungen bei dem linken Bild lassen sich problemlos nachvollziehen. Johannes ist als der intellek-tuelle Feingeist dargestellt, der den Praktiker Petrus auf Einzelheiten der Schrift hinweist. Dieser ist nicht der hellste Kopf, hat aber mit dem Schlüssel in der Hand die integrative Fähigkeit, die entstehende Gemeinde in Rom zusammenzuhalten, und damit die Entscheidungsmacht,

 

Hochproblematisch werden die Benennungen auf dem rechten Bild mit Paulus vorne als Choleriker und Markus hinten als Melancholiker. Paulus blickt hier grimmig drein, und ist mit Schwert und Gesetzbuch als Hüter von Gesetz und Ordnung dargestellt. War er das auch? In der Apostelgeschichte ist zu lesen, dass er mit seinem Redetalent andere provozieren, aber auch mitreißen konnte. Bei seinen Missionsreisen in Griechenland erzeugte er ständig Aufruhr und Randale. Die Auferstehung des Fleisches, die er propagierte, war für die Griechen eine Provokation. In Rom wurde der ehemalige Geheimdienstler dann auch als Aufrührer hingerichtet. Mit Schwert, das seine aufrührerischen Reden sofort beenden würde, und dickem Gesetzbuch wird er nirgendwo in der Apostel-geschichte erwähnt.

Im rechten Teilbild wird der Wunsch zum Vater der Zuordnung. Paulus hielt man als Begründer des Christentums für bedeutender als den nüchternen Evangelisten Markus. Deshalb sieht man vorne Paulus als Choleriker(??) und im Hintergrund Markus als Melancholiker(??).

Im Bild von Dürer kann ich Melancholie bei Markus, dem nüchternen Literaten, nicht entdecken. Diese Einstufung ist ein Hohn. Er blickt im Gegenteil feindlich wie ein Sektierer an Paulus vorbei, der seinerseits seinen Anblick meidet. Beide halten nicht viel voneinander und sind sich in Feindschaft verbunden.

 

Die Beschreibung der Choleriker kann ich kaum noch nachvollziehen. Sie sind das Gegenteil von Ekstatikern: Ordnungsmenschen. Selbst ihre Hasstiraden haben einen "ordentlichen" Ablauf; man kann sie als eine Kunstform betrachten. Choleriker sind nie vorschnell und explosiv, sondern können abwarten, bevor sie zuschlagen. Hass ist ein langfristiges Phänomen. Wutausbrüche sind bei ihnen extrem selten. Sie sind äußerst diszipliniert, zwanghaft, wie Sigmund Freud sie nennt.

Bei zwei zugesandten Einträgen fehlten die Melancholiker. Mit denen kommt man offenbar in Hinblick auf die Temperamente nur schlecht zurecht, ich gar nicht. Als temporäre Gemütsverfassung, welche alle Temperamente betreffen kann, macht es noch Sinn, aber als Temperamentkategorie kaum.

 

Umgekehrt macht die Einstufung schon mehr Sinn: Vorne Markus mit umfangreichem geschlossenem Buch, wie es bei einem Literaten zu erwarten ist, bloß das Schwert passt nicht dazu. Dahinter Paulus mit einer kleinen Schriftrolle, welche als Redemanuskript in Stichworten Sinn macht. Er ist als kleingeistiger Feuerkopf dargestellt, der mit seinem Redetalent und seiner Streitsucht andere provozieren, aber auch mitreißen kann.

 

Lediglich als Darstellung der vier Temperamente machen die Teilbilder Sinn.

 

Als andere bekannte Persönlichkeiten des gleichen Temperaments wie Paulus sind anzusehen:  Mohammed, Martin Luther, G. Mahler, S. Dalì, Fr. Nietzsche, W. Shakespeare, W. A. Mozart,

M. Callas, Br. Bardot,  Marilyn Monroe, Klaus Kinski, Benito Mussolini, Elon Musk; selbstverstänlich gehört auch Prigoschin dazu.

In Konfliktfällen ist ihr auffälligstes Merkmal der eruptive Kontrollverlust (Ausraster, Gepoltere, Jähzorn), der aber auch theatralisch eingeübt als Waffe eingesetzt wird.

 

Das Bild zeigt einen Marktschreier (Detail) aus einem Vielesser-Wettbewerb (DER SPIEGEL). Was ist da echt, was Show?

 

Aus der generell wenig trefflichen Sachlage der Säftelehre heraus entstand die Theorie, dass es unzählige Mischformen geben sollte, was die ganze Lehre vollends unglaubwürdig erscheinen lässt. Die Gene kennen keine Halbheiten und Mischformen.

 

Deutlich näher an meiner Deutung der vier Temperamente als sexuelle Wechselwirkungen liegen generell die Einschätzungen von Sigmund Freud (hysterisch, depressiv, zwanghaft, schizoid), auch wenn diese an der Borderline-Grenze zu verorten sind, und eine Analyse der Wechselwirkungen fehlt. Allerdings hat er mit seinen inquisitorischen Befragungen und seiner Nomenklatur des Extremverhaltens der vier Temperamente an den fehlenden Ursprüngen bei den Säugetieren und Beziehungen nichts ändern können, da er nie stiller Beobachter von Paaren in ihrer Privatsphäre war, wo die Verhältnisse sich verdeutlichen.

 

Anstelle dass ich mich an den hier vorgestellten Einschätzungen weiter abarbeite, möchte ich lieber hinweisen auf das, was alles fehlt:

 

Warum gibt es eigentlich 4 Temperamente, und nicht 3 oder 5?

 

In welcher Beziehung stehen die T. zueinander oder gegeneinander? Anders gefragt, wie paaren sie sich, wie beißen sie sich? Wie organisieren sie sich in Grundformationen? Wie stellt sich ihre Verteilung in größeren Assoziationen dar?

 

Was ist die Ursache, dass eine verlässliche Begründung der Temperamentenlehre auch nach 2400 Jahren noch nicht entwickelt werden konnte?

 

In welcher Beziehung stehen die Temperamente zu den gesellschaftlichen Grundwerten: Bewegung, Ruhe, Ordnung, Chaos?

 

Welches ist das Zahlenverhältnis der Temperamente in der Bevölkerung? (bedeutsam!)

 

Gibt es ein Tabu, welches die Aufdeckung der wahren Ursachen verhindert, und noch stärker wirkt als das Tabu der Sexualität, sodass die seriöse Wissenschaft die Beschäftigung mit dem Phänomen meiden muss?

 

Was ist die Historie der vier Temperamente? Ist sie als Alleinstellungsmerkmal der Menschen vom Himmel gefallen, oder gibt es sie auch im Tierreich, und wenn ja, wo und seit wann?

 

Was sind die Vorteile, und was die Nachteile der vier Temperamente?

 

Das Temperament wird zwar auch in der Öffentlichkeit wirksam, konkretisiert sich aber vor allem im tabuisierten Intimbereich. Was dabei zutage tritt, ist uns allen peinlich, (natürlich auch mir). Um das zu vermeiden, ergeht man sich lieber in Gemunkel. Die angeführten Beschreibungen erscheinen mir so als Betrachtungen von Wolke 7 auf ein vielfarbiges Blätterdach im Urwald, wobei der Stamm und die Wurzeln unsichtbar bleiben, und die Zusam-menhänge so unklar bleiben wie bei Impressionen.

Bezeichnend für die Unsicherheit bei der Betrachtung des "Blätterdachs" ist die Scheu, konkrete Personen - sei es aus der Vergangenheit, Gegenwart oder sich selbst - einem Temperament zuzuordnen. Womöglich ist schon das ein Tabu. Man belässt es lieber bei Zeichnungen von Köpfen fiktiver Personen.

 

Eine Theorie der Temperamente, welche die Grundzüge des Paarungsverhaltens und der primären Assoziationen nicht einsichtig machen kann, ist aus meiner Sicht reif für den Papierkorb.

 

Leider kann auch ich nichts beweisen; der Beweis ist die Zwangsjacke, die sich die Kaste der Wissenschaftler angelegt hat, was ich generell für ausgesprochen sinnvoll halte, solange der Gegenstand der Betrachtung nicht tabuisiert ist. Dann scheitert auch die intensivste Befragungstechnik, da sich der Befrager (Inquisitor) dem Befragten überordnet. Ich kann lediglich einen neuen Denkansatz vorstellen, welcher die Gegebenheiten einsichtig macht, beschämend naheliegend und in seinem sexuellen Instrumentarium hinreichend bekannt ist.

 

Allerdings könnte die Suche nach den verursachenden Genen die Genetiker vor fast unlösbare Probleme stellen angesichts des genetischen „Urwalds“. Sie müssten zunächst einmal wissen, wonach sie suchen sollen. Hier kommt die Wissenschaft an ihre Grenzen.

 

Nach diesen Ausführungen dürfte es einsichtig sein, dass das Phänomen der Temperamente ohne die sexuellen Grundlagen nicht widerspruchsfrei darstellbar ist, und dass ich zur Bewältigung des Problems eine andere Systematik und Nomenklatur einführen musste.

 

Fazit: Das Tabu-Bewusstsein der Säftelehre führt zu verklemmten Erkenntnissen, die nur an der Oberfläche des Phänomens kratzen, und das auch nur fehlerhaft.

 

Vor der Lektüre meiner Abhandlung muss ich Personen warnen, welche in den ratternden Kreislauf des Alltags verstrickt sind. Da alle Menschen von den sexuellen Implikationen betroffen sind, und niemand sich damit herausreden kann, das beträfe nur andere ("Gott sei Dank, ich bin nicht so"), könnte die ungeschminkte Wahrheit die persönlichen Beziehungen empfindlich stören. Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Menschen wahrheitsliebend sind. Deshalb gibt es die Tabus. Aber auch die sind nicht aus Beton für die Ewigkeit gegossen. Nur in der Belletristik darf man sich über sie hinwegsetzen, da es dort immer um Einzelfälle geht.

 

 

Nachtrag: Eine Kontaktaufnahme mit Trägern der Wissenschaft verlief in betretenem Schweigen. Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Wissenschaftler von dem Korsett ihrer Prinzipien abgehen, das sollten sie auch nicht.  Das Tabu des Privatlebens scheint für sie zur Zeit unüberwindlich. Das war nicht immer so rigoros.  In den siebziger und achtziger Jahren, in denen ich meine wichtigsten Erfahrungen zu diesem Thema machte, gab es Einbrüche in der Tabufront.

Eine intensive Beobachtung der Unterschiede im Verhalten bei Hunden, die nach dem gleichen genetischen Konzept sich als Beutegreifer bewährt haben, uns nahestehen, und zu Täuschungen nicht fähig sind, könnten Hinweise geben.

 

Meine Printversion der Temperamente bei Verlagen einzureichen kann ich mir schenken. Ein Verkaufserfolg lässt sich damit für den Verlag nicht erzielen. Außerdem möchte ich nicht riskieren, dass mir mein Lebensabend angesichts meines Alters durch expansive Maßnahmen vergällt wird. Meine Abhandlung sehe ich schließlich als psychosexuelle Konterbande. Eine zielführende Darstellung der Temperamente kann zur Zeit nur unerwünscht sein. Aber das muss nicht für alle Zeiten so sein.