Die Temperamente der Katzen

 

 

Es fiel mir bei den Einträgen im Gästebuch auf, dass die unterschiedlichen Charaktereigenschaften von Katzen und Katern kaum systematisch betrachtet und analysiert werden. Sie gehen in der bunten Vielfalt unter. Ich möchte zu dem Thema extreme Beispiele anführen, die ich selbst erlebt habe. Zunächst zwei Beobachtungen aus meiner Abhandlung Die vier Temperamente:

 

Beobachtung zur Polarisation des Verhaltens

 

In einem Bauernhof am Rande der Pyrenäen vertrat ich Bekannte bei Aufsicht und Versorgung der Menagerie. Hier interessieren in dem thematischen Zusammenhang drei Anwesende: ein riesiger Neufundländer, der meist einen gelangweilten Eindruck machte, sowie zwei junge Katzen aus dem gleichen Wurf, eine Sie und ein Er.

Ihn sah ich oft mit zerzaustem und angenässtem Fell von draußen hereinkommen. Bald sah ich auch wieso: Er ließ sich von dem Neufu im Maul herumtragen und behutsam schütteln. Dann sah ich auch einmal, wie der Neufu ihn wieder absetzte, weil er ihn nicht „richtig“ angepackt hatte. Der Kater blieb ruhig sitzen, bis der Tragebiss richtig saß. Dann konnte es weitergehen.

 

Ich machte mir Gedanken, was wohl der Sinn dieser Borderline-Show sein könnte, die ich mir nicht hätte ausdenken können: Es muss eine Win-win-Situation gewesen sein. Der Neufu hatte seine Beißwünsche sublimiert, sich als fürsorglicher Boss erwiesen und zudem einen Spielkameraden gefunden, der seine Langeweile vertrieb, während der Kater sich an der Tragstarre aufgeilte. Zudem hatte er einen mächtigen Beschützer gefunden, der seinen Spielkameraden mit Zähnen und Tatzen beschützen würde. Es könnte ja auch anders kommen.

Die Futternäpfe für die Katzen waren auf einem Holzstoß, wo der Neufu nicht hinkonnte. Als ich seinen Napf dort hinstellte, produzierte der Kater eine Elendsnummer, die mein Herz erweichen sollte, was auch klappte. Er wollte von mir hochtransportiert werden. Auch nahm er sich heraus, seinem Boss aus dem Napf etwas zu stibitzen, was natürlich eine Anmache war, welche die Beziehung vertiefte.

 

Wie arrangierte sich nun Sie mit der Situation? Sie mochte nun gar nicht im Maul herumtransportiert werden und ging konsequent derlei Annäherungsversuchen aus dem Weg. Dann sah ich sie auf dem ruhenden Neufu liegen. Da fühlte sie sich als Herrin des Geschehens und war unangreifbar. Er duldete das. Es war zwar keine Aufgeilerei, sondern gegenseitige Wertschätzung, die dem Betriebsfrieden diente. Auch ich hatte sie unerwartet auf dem Bauch, als ich lesend auf einer Liege lag. Sie war außerdem mit zwei Sätzen auf dem Holzstoß. Der Gastgeber sagte mir später, dass der Kater ein ebenso guter Mäusefänger sei wie die Katze.

 

Ein anderer Kater, den ich bei einem Freund kennenlernte, ließ sich von dem Haushund zausen. Erst als es ihm zuviel wurde, zeigte er seine Krallen und beendete das Spektakel. Es handelt sich also nicht um einen Einzelfall. Kaum anders geht es in einem Dominastudio zu.

 

Was ist wohl der Grund für diese Polarisation des Verhaltens?

Eine Katze muss ihr Revier unter Kontrolle haben und dort Herrin des Geschehens sein, wenn sie ihren zahlreichen Nachwuchs durchbringen soll. Genau das ist bei der Paarung, die ja die einzige Daseinsberechtigung eines Katers ist, in Frage gestellt. Aus anatomischen Gründen muss sie der Succubus (Unterlieger) sein, was ihr sichtlich widerstrebt, und die Revierverteidigung unterlassen. Hingegen muss er bei Rolligkeit umherstreunen, ein empfängnisbereites Weibchen suchen, Nebenbuhler auf unbekanntem Gelände vertreiben, dann alle Register der Unterwürfigkeit ziehen, damit er sie als Incubus (Auflieger) rumkriegen kann. Je chaotischer die Situation, um so besser für ihn.

Da bei allen Feliden mit Ausnahme der Löwen die Geschlechterverhältnisse die gleichen sind, gehe ich davon aus, dass die Temperamente hier fest mit dem Geschlecht gekoppelt sind.

 

Auch die beiden Beispiele aus den Tierheimkatzen lassen den Unterschied deutlich werden.

 

Die Katzen ordne ich dem Temperament „Feindliche Stärke“ zu. Es geht ihnen darum, beobachtend die unbedingte Kontrolle über das Revier zu behalten, wenn nötig und möglich zu erweitern, und Eindringlinge zu vertreiben. Ihre fundamentale Eigenschaft ist Zuverlässigkeit, Reviertreue und präziser Überraschungsangriff. Katzen sind ausgesprochen ehrbewusst, und fühlen sich beleidigt, wenn sie ihrer Freiheit beraubt werden. Sie lassen es nachträglich noch eine Weile spüren.

 

Das Temperament der Kater lautet „Feindliche Schwäche“. Selbstverständlich wird auch der Kater sein heimatliches Revier verteidigen, das seine Nahrungsgrundlage ist, wenn er gerade anwesend ist. Im Extremfall ist dann seine Angriffshaltung dabei der Amok. Aber wenn er zu Zeiten der Rolligkeit seiner Bestimmung nachgehen wird, muss er sein Revier verlassen, und wenn nötig kilometerweit umherstreunen, um ein Weibchen zu finden, welches in der Ranz ist. Er wird schon vorher die Umgebung nach potenziellen Partnerinnen und Konkurrenten auskundschaften, und dazu öfter und weiter sein Revier verlassen. Seine Charaktereigenschaft ist Unstetigkeit, Abenteuerlust und Unvorhersehbarkeit, und wenn er zum Zuge kommen will Schau-spielerei. Ein Kater kann nur mit Ehrlosigkeit gewinnen. Das Chaos ist sein Freund. (Ist bei Menschen dieses Temperaments nicht anders.) Dazu noch zwei Beispiele aus der Nachbarschaft:

 

Ein Nachbar hatte sich einen jungen Kater aus einem Bauernhof zugelegt. Bei offener Haustür kam er auch bei mir herein, und wollte sich anfreunden. Ich durfte ihn streicheln, aber er wollte von mir keine Leckerli. Er besuchte mich dann öfter, und ich dufte ihn knuddeln. Später erfuhr ich, dass er auch bei anderen Nachbarn das gleiche tat. Überall schloss er Freundschaften. Leider lebte er nicht lange, weil er nicht geimpft war.

 

Auf einem erhöhten Gartengrundstück in meinem Viertel tauchte hinter einem ausbruchsicheren Maschendrahtzaun ein Kater auf. Ich befand mich auf einem tiefer gelegenen Fußweg, sodass ich auf Augenhöhe von ihm war, als ich direkt an den Zaun herantrat. Als er mich so sah, Kopf an Kopf, zog er eine wilde Show für mich ab. Ganz plötzlich beendete er dann das Spektakel, setzte sich an die Grundstücksgrenze, und blickte im rechten Winkel zu mir ins Nachbargrundstück, mir die kalte Schulter zeigend: The Show is over!

 

Bei Katzen in Wohnungshaltung sind diese Verhaltensunterschiede seltener so deutlich erfahrbar.