Musikalisches Tagebuch

Computergrafik  von Jürgen Elsässer (1990)

Historie

 

Die Hoffnungen, die ich auf die Synthesizer als Instrument der Zukunft gesetzt hatte, wurden bei den damals noch primitiven und instabilen EMS-Geräten, bei denen ich noch einzelne Transistoren verlöten konnte, enttäuscht. Da halfen auch die Sequencer nicht weiter. Meine Beschäftigung damit endete mit einer dreivierteljährigen Ekelphase, in der ich einen Bogen um mein Studio machte.

Dann aber musste ich weitermachen. Ich reduzierte den Synthesizereinsatz nach und nach und entwickelte eine neue Konzeption der Klangerzeugung: Rückkehr zu konkreten Klängen, Vervielfältigung von akustischen Materialien mittels Endlosschleifen vor und rückwärts mit 2 kombinierten 4-Kanal-Tonbandgeräten sowie kurzen Samples von etwas über einer Sekunde eingespeist in ein digitales Echogerät, welches sich in der Geschwindigkeit und damit auch in der Tonhöhe steuern ließ. Auch konnte ich damit Geräusche vertonen (ähnlich Kammfiltereffekt). Weitere Techniken werden auch in den Texten zu den Stücken erwähnt. Ich hoffte, hier meinen persönlichen Stil gefunden zu haben. Im Nachhinein wohl zu persönlich, um „markttauglich“ zu sein. Die wenigen Stücke aus dieser Phase (ich habe sie mir eher abgerungen, als dass es mir leicht fiel) sind Ausdruck meiner jeweiligen seelischen Befindlichkeit. Die ist allerdings nicht reproduzierbar. Daher der Titel „Musikalisches Tagebuch“. Es würde mich nicht wundern, wenn die Musik von Psychologen mehr geschätzt würde als von Musikkonsumenten.

 

Alle Stücke waren im Original quadrofonisch. Die einzelnen Elemente sind dabei räumlich lokalisierbar. Jedes Element musste vorfabriziert werden, und hat sein eigenes Zeitmaß, welches nur zusammen mit der Tonhöhe veränderbar war. Heute stehen technische Mittel bereit, das Zeitmaß separat von der Tonhöhe zu strecken oder zu beschleunigen. Die entstehende Polyrhythmik war nur mit Mühen unbefriedigend in den Griff zu bekommen.

Durch die Reduktion auf 2 Kanäle leidet die Durchhörbarkeit der dichten Klänge und der rhythmischen Überlagerungen. Auch musste ich hierbei die dynamischen Unterschiede reduzieren. Die Möglichkeiten der Elektronik waren noch bescheiden.

 

Zeitmesser, der, die, das  (1985)  14´39´´

Herzhemmung (1985)  16´00´´
Bleischlaf  (1985/86)  14´34´´

              Wir lieben unsre Autobahn (1986/87)  13´55´´

              Der Ameisenkult  (1987/88)  15´09´´

              Die Habsucht-Kantate  (1989)  19´02´´

              Die Krone der Erbärmlichkeit  (1990)  20´54´´

              Kassandra  (1991)  14´50´´

Stahlgewitter (1991 / 2020 Nachtrag) 3´35´´ 

 

 

 

 Text zu einer öffentlichen Vorführung von Auszügen aus meinem "Musikalischen Tagebuch“

 

Die Ausschnitte aus meinem musikalischen Tagebuch, die ich Ihnen heute abend vorzuführen gedenke, entstammen einem Lebensabschnitt, den man in moderner Ausdruckweise Midlifecrisis nennt und den ich am treffendsten damit charakterisieren würde, daß meine Liebe zum „Schönen Schein“, welche die seelische Grundlage jeder materiellen Künstlerexistenz darstellt, einen argen Einbruch erlitt, von dem sie sich bis jetzt noch nicht wieder ganz hat erholen können. Lange zurückgedrängte - da der Ausübung des staatlich geprüften Gauklergewerbes hinderliche – Erkenntnisse überschwemmten mich mit sintflutartiger Vehemenz und ließen mir mein eigenes Tun zunehmend als eine Hervorbringung von Schwindelgenen erscheinen, die alle menschlichen Tätigkeiten auszuzeichnen scheinen.

Dieser Lebensabschnitt begann etwa 1985 mit fast totaler Abstinenz vom Medienkonsum, der meinen Ausstieg vom Süddeut-schen Rundfunk einleitete, und endete nach der Vollendung von „Kassandra“, die mir wie ein Stein von der Seele plumpste, mit meinem Wegzug von Stuttgart. Ein weiteres begonnenes Stück in ähnlichem Stil blieb unvollendet.

Ich muss wohl zu neuen Ufern: Neues Spiel – neues Glück.

                                                                                                                      Januar 93

Zeitmesser, der, die, das

 

 

Zu diesem und dem nächsten Stück habe ich seinerzeit noch keinen Text mit außer-musikalischem Bezug verfasst und möchte es auch jetzt nicht tun. Das Stück ist eine Mischung von Synthesizerklängen aus meinem Archiv und konkretem Klangma-terial. Die dynamische Feinstruktur entstand mittels einfacher Synthesizersteuerung, die Grobsteuerung sowie Filterung geschah von Hand, die Vervielfältigung mit Band- schleifen vor- und rückwärts. Die kurzen Motive entstammen der Speicherzelle eines digitalen Echogeräts. Die Samples waren etwa eine Sekunde lang. Mehr gab meine Technik nicht her. Manche Einzelheiten kann ich heute nicht mehr nachvollziehen. Die Einheit in der Vielfalt entsteht durch Wiederholung in jeweils anderen Konstella-tionen: kein Element erscheint nur einmalig. Die verhalten düstere Grundstimmung wird durch den epischen Duktus gemildert.

 

 

Zeitmesser.mp3
MP3-Audiodatei [20.2 MB]

 

Herzhemmung

 

 

                                                                                                                                                       L.M. Wintersberger

 

Dieses Stück ist mit dem „Zeitmesser" eng verwandt. Ich habe allerdings die Zahl der Elemente in den einstelligen Bereich redu-ziert, was die thematische Geschlossenheit erhöht. Es kommen fast ausschließlich vervielfältigte Klänge zu Gehör. Lediglich das monotone rezitativische Element, mit dem Bremsseil eines Fahrrads auf der Saite einer Ektara (ein Monocord) gespielt, tritt manchmal solistisch auf. Das markanteste Motiv, den „Donnergott“ habe ich mit einem robusten Gesangsmikrofon erzeugt, indem ich mit ihm auf ein Donnerblech geklopft habe -- in das Vierfachecho eines Tonbandgeräts hinein. Meine ebenfalls eintönige Stimme chorisch vervielfältigt, erscheint in mehreren Tonlagen. Eine sprachliche Speicherzelle in einem Echogerät wird leicht zeitverzögert von einem Synthesizer abgetastet. Das Stück endet gänzlich unvermutet mit einer Art Fragezeichen.

 

In "Bleischlaf" habe ich dann die Ökonomie der Mittel ausgereizt. Danach geht es herber und vielfältiger zur Sache.

 

 

Herzhemmung.mp3
MP3-Audiodatei [22.0 MB]

Der Blei-Schlaf

 

                                                                                                                                                                                   L.M. Wintersberger

 

Wenn Körper und Seele durch exzessive Konsum- und Materialschlachten bleiverseucht sind, dann kommt der Bleischlaf über sie. Die Glieder erfasst bleierne Schwere, die Seele bedrückt das Seelenblei. Der Blei-Schlaf reduziert die Lebensvorgänge auf das Mini­mum. Nach Völlerei ist Askese gefragt, nach rauschhaftem Fest eine Besinnung auf die Stille. Der Blei-Schlaf ist der Versuch, sich der Stille zu nähern, ohne das Leben preiszugeben.

Das Hörbild des Musikstückes kennzeichnet große formale Strenge sowie rigorose Ökonomie der Mittel. Sechs Elemente mit be-

schränkten Freiheitsgraden treffen in unterschiedlichen Konstellationen aufeinander, alle gehorchen dabei scheinbar nur ihren eigenen Gesetzen der Wiederkehr. Entwicklung, Vielfalt, und damit Leben entstehen aus dem Zusammentreffen der Elemente, die sich mal för­dern, mal hemmen. Alle sechs Elemente, auch die Stimme in ihren fünf Tonstufen, stellen sich bereits in der ersten Minute vor, was folgt, ist Wiederkehr und Entwicklung. Zwei Zonen extremer Materialausdünnung gliedern das Stück in drei etwa gleichgewichtige Abschnitte -- entsprechend dem dreiteiligen Aufbau des mittelalterlichen Minnegesangs: Stollen, Stollen, Abgesang. Der erste „Stollen" endet mit dem Versuch, Einstimmigkeit wenigstens mit zwei Elementen zu erzielen. Diese Einstimmigkeit kann aber nur eine vorübergehende Konstellation sein. Sie muss sich verflüchtigen, soll das Stück nicht sich selber untreu werden. Den folgenden zweiten „Stollen" beenden zwölf glockenartige Schläge, in die sich der regelmäßige Puls des Müssens verwandelt hat. Erst jetzt nach Mitternacht läßt der Druck der Pflicht nach, es lässt sich freier atmen, und die Kür des Abgesangs kann sich ins Hymnische steigern. Aber auch dieser Nachtgesang ist nur eine von vielen Konstellationen -- ermöglicht durch die Abwesenheit der rhythmischen Elemente, welche sich zuletzt umso unerbittlicher zurückmelden müssen.

                                                                                                                        Jan.90

 

Bleischlaf 2.mp3
MP3-Audiodatei [10.0 MB]

                                                                                                                           Radierung: L.M. Wintersberger

 

Von der Freiheit der Blechkäfig-Menschen

 

Die Geschichte berichtet von einem chinesischen Kaiser Mitte des vergangenen Jahrhunderts, welchem englische Abgesandte und Geschäftsleute eine Eisenbahnlinie aufdrängen wollten. Eisenbahnen mögen damals eine Reisegeschwindigkeit von etwa 40 Stundenkilometern erreicht haben. Der Kaiser lehnte dieses Ansinnen mit der Antwort ab: Es gibt keinen vernünftigen Grund, einen Ort so schnell zu verlassen.

 

Wir suchen unser Glück in der Ferne. Wir lieben unsre Autobahn. Zuhause will uns die Decke schier auf den Kopf fallen, Planstel-lenneurosen fördern den dumpfen Freiheitsdrang. Aus dem verplanten Leben auszubrechen wird zum Zwang: Also hinaus aus dem Käfig, hinein in den Blechkäfig! Ein Ziel - dieweil unwichtig - ist schnell gefunden. Wir steigen ein, schon haben wir es eilig. Los geht die Fahrt zur Autobahn. Sie ist der Altar unseres Beförderungskultes. Hier suchen wir den Geschwindigkeitsorgasmus. Otto Mobil hat die Zentauren abgelöst. Ist das nicht geil?

Doch wo die Billigend-inkaufnehmend-Täter unterwegs sind, sind auch die Opfer nicht weit. Die Quelle der Lebensfreude ist auch

der Altar des Todes. Aber Leichenberge aus lauter Jux und Dollerei? Das geht so einfach nicht. Das Ziel sollte die Opfer wert sein, da müssen Zwänge her! Dann können wir Schuldgefühle durch Ablasshandel entsorgen: Zerstörung wird zum Versicherungsfall. So statten wir das Vergnügen mit tausend Gründen aus, weswegen wir schnell von einem Ort zum anderen gelangen müssen. Die Überwindung der Entfernung wird zu einem alltäglichen Herrschaftsritual, das wir vollziehen müssen gemäß unserem inneren Auftrag : "Macht euch die Erde untertan."

Herrschsucht, Machtmittel, Zwänge, Täter, Opfer: das Szenario für eine sadomasochistische Aufgeilerei ist komplett. Die psychi-sche Polarisation, die uns bis zur und in die Raserei treibt, findet in dem Stück ihre klangliche Entsprechung in der Polarisation des musikalischen Materials, welches allein schon aufgrund unterschiedlicher technischer Verarbeitung zwei komplementäre Bereiche musikalischer Charaktere darstellt. Der eine Klangbereich -- ich will ihn den sadistischen nennen -- umfasst gezupfte und geschlagene Töne in engstem Tonraum auf einer Ektara (einem indischen Monocord), welche durch das technische Mittel des Rückwärtshalls zu anrollender und grollender Bedrohlichkeit aufgeblasen werden. Hier finden sich die antreibenden Kräfte: Kommandanten, Einpeitscher, Tempomacher, Sklaventreiber, Prügler, Henker und sonstige Zwängevollstrecker, aber auch den Künder der "reinen" Lehre als Rufer in der Wüste.

Umfangreicher und vielfältiger als das doch recht eindimensionale sadistische ist in seinen klanglichen Erscheinungen das Spek-

trum „masochistischer" Strukturen vertreten. Wenngleich von unterschiedlicher Herkunft -- vor allem Streichinstrumente und Stimme -- wurde das Klangmaterial auch hier technisch auf gleiche Art weiter verarbeitet, indem es als Schnipsel (technisch: Samples) von ca. einer Sekunde Dauer in die Speicherzelle eines digitalen Echogeräts eingespeist wurde, welches es bis zur Löschung endlos wiederholt. Dieses im Rohzustand stupide Grundmaterial wurde durch manuelle oder auch maschinell program-mierte Steuerung der Tonhöhe sowie der Lautstärke, anschließend durch Vervielfachung und Schichtung zu komplexen Struktu-ren sowohl aufgelockert als auch verdichtet.

Das Individuelle des eingespeisten Klangereignisses verliert sich zugunsten des Reizes kollektiver Strukturen. Maschinell verwal-tete Tonmassen schaffen neue Möglichkeiten und unvorherhörbare Erscheinungen, welche keine kompositorische Fantasie sich auszudenken vermöchte. Sie bringen allerdings auch eine hohe Rate nicht verwertbaren Klangmülls hervor, den der Komponist an der Maschinenrampe zu selektieren hat. Selektion und Anpassung sind unabdingbare Eingriffe, um die Mitte zwischen Maschinenstumpfsinn und ins Chaos zerfließender Beliebigkeit zu halten.

Die klanggewordenen Sklavenheere verkörpern suchtgesteuerte kollektive Wahnvorstellungen. Da gibt es die Jubler, die Gefühle des Glücks vorgaukeln, aber auch die Meckerer, die alle Möglichkeiten zerreden, bis nur noch das Müssen übrigbleibt. Da gibt es freudige Sehn-Sucht nach Erfüllung in der Ferne und ihre Reali­sierung als Todesschneisen. Es gibt die Gehetzten und Getriebe-nen, die sich an ihren Qualen aufgeilen, die Ängstlichen, die trotzdem mitmachen: Dabei sein ist alles. Die unangepassten Geschwindigkeiten fordern ihren Tribut. Wonneschreie vermengen sich mit den Schreien der Opfer.

Der Fetisch dieses Opferkultes, an dem sich die sadomasochistischen Fantasien entzünden, tritt als eigenständige dritte Klang-welt höchstselber auf, eingehüllt in Tongewänder, nur zum Schluss tritt der König einmal nackt auf. Die Vertonung im wörtlichsten Sinne steigert den verführerischen Kitzel einer Schallaufnahme am Rand der Autobahn.

 

Das Zeitalter der Massenvernichtung feiert seinen neuesten Vernichtungskult rauschhafter Raserei. Der Geschwindigkeitsor-gasmus ist unser Potenzbeweis. Bloß nicht schlappmachen!

                                                                                                                                                      Jan.90

 

Wir lieben unsre Autobahn.mp3
MP3-Audiodatei [19.2 MB]

Der Ameisenkult

 

                                                                                                                           Quelle: Chinesische Malerei, Fantasie von Kaifeng, aus GEO-Epoche

 

Die Ameisen sind unser Vorbild. Sie hasten in mal zielbewusst, mal ziellos erscheinender Geschäftigkeit hin und her, niemals einhaltend oder zur Ruhe kommend. Auf langen Ausfallstraßen transportieren sie aus weiter Ferne Lebensmittel und Baumate-rialien in ihre gigantisch aufgetürmten Zentralen, wo sie nach genetisch programmiertem Muster zu Wohn-, Produktions- und Vorratseinheiten aufgeschichtet oder gesammelt werden. In der näheren Umgebung dieser Ameisenmetropolen kann sich andersartiges Leben nicht behaupten, es sei denn, die Ameisen ziehen Nutzen von ihm. Alles Erreichbare und Beherrschbare wird dem Akkumulationsprinzip unterworfen: Der Einzugsbereich wird ausgebeutet, Müll geht retour.

"Der Ameisenkult" versucht eine musikalische Würdigung dieser Akkumulationsidee. Klangliche Miniaturbausteine (sogenannte Samples) von maximal etwa einer Sekunde Dauer werden wie die Tannennadeln in einem Ameisenhaufen zu größeren Einheiten geschichtet und aufgetürmt. Individuelle Behandlung bei dieser Massentonhaltung wird dabei lediglich der Auswahl und Aufberei-tung der jeweiligen Klangelemente zugebilligt, welche aus dem klanglichen Kontinuum des Lebens herausgegriffen, im SampIer isoliert werden, um sodann auf ihre Verwendbarkeit als Massenbauelement getestet werden zu können. Kriterien der Verwend-barkeit sind dabei musikalische Bedeutsamkeit -- d.h. Eignung für den kulturellen Pyramidenbau -- verbunden mit Anpassungs-fähigkeit an die jeweilige musikalische Situation. Hat ein solches Klangmuster den Tauglichkeitstest bestanden, so erfolgen Massenproduktion, Steuerung und Schichtung in statistischem Verfahren nach der Methode „try and error" oder auf deutsch: die guten ins Töpfchen, die schlechten ans Löschköpfchen. Man sieht (hört): Die Methoden der Massentonhaltung entsprechen den Prinzipien der Massen-tier-mensch-haltung. Das zivilisatorische Gewusel ist nicht synchron; synchron ist bloß die Parade.

Fast alle Elemente des „Ameisenkults" wurden nach der Methode der statistischen Vervielfachung entwickelt. Die Ausnahme bilden einige Synthesizerklänge, welche die Maschinenwelt der identischen Vervielfältigung repräsentieren, ein Ideal, dem Lebewesen immer nur nachstreben, das sie aber nie erreichen können. Die Maschinen erweitern unsere Macht: Erst sie machen es möglich, die Metropolen ins Gigantische zu vergrößern und zu ihrer Versorgung die ganze Erde auszuplündern. Die Erkennt-nisaffen (homines sapientes) klopfen die Erfahrungen, die sie der Beobachtung anderer Lebewesen abgewinnen, auf ihre Brauchbarkeit für das Ziel ab, die eigene Macht zu vergrößern und sich die Natur zu unterwerfen. Die Ameisen sind ein wichtiges Vorbild für ihre Staatsidee. Auch ist das Gezerre hin und her, welche Politiker um ein neues Gesetz veranstalten, nicht unähnlich dem einer Gruppe von Ameisen, denen man ein Eichenblatt auf ihre Siedlung geworfen hat.

Bringt man die unterschiedlichen Elementarzeiten durch Zeitlupe bzw. Zeitraffer auf das gleiche Maß, so werden Übereinstim-mungen noch frappanter. Dennoch sind beide Staatswesen auch wiederum unvergleichlich, weil anders gesteuert. Weiß eine Ameise aufgrund ihrer genetischen Programmierung, die sich in Jahrmillionen der Anpassung entwickelt und bewährt hat, was sie zu tun und zu lassen hat, so wird die gesellschaftliche Entwicklung der Menschen von dem Licht oder auch Dunkeldünkel ihrer Erkenntnisse vorangetrieben und mit hierarchischer Kommandostruktur umgesetzt, deren Schatten man immer erst im Nachhinein erfährt.

                                                                                                                                                                                         Mai 91

 
 

 

 

Ameisenkult 2.mp3
MP3-Audiodatei [10.5 MB]

 

 

Die Habsucht-Kantate

 

                                                                                                                                                                                    Collage: Hermann Beck

 

Die Habsuchtkantate versucht die fundamentale menschlich Triebkraft musikalisch zu würdigen, welche neben und mit der Herrschsucht und dem Geltungsdrang die Koordinaten unseres Denkens und Handelns festlegt, und deren Bedeutung schon daraus hervorgeht, dass man sich nie zu ihr bekennen, sie allenfalls bei anderen entdecken darf. Die Habsucht-Kantate bricht mit diesem Tabu.

Das Stück beginnt mit einer strahlenden Plünderfanfare: Hurra, eine (nicht ganz so) neue Plünderidee ist geboren! Schon erscheint mit polternden Bässen im Raum umhergeisternd: Habsucht sucht -- Habsucht sucht. Dazu der Lockruf der Sirenen, auch die Harpyen machen sich schon startklar. Die Plünderidee heißt Animation: Das Gauklergewerbe will sich in Brot setzen. Doch wo soll so reiche Beute winken, dass der Jubel nicht umsonst ist? Es ist der goldene Acker, auf dem sich sogar Scheiße in Gold verwandelt: er heißt  Anima, der Seelenacker. Wer auf der Anima richtig umgräbt, einsät, düngt, Unkraut und Ungeziefer vernichtet, bei Bedarf wässert, darf reicher Ernte gewiß sein. Animation -- Anima -- Money, das ist die geistige Botschaft die­ses Stückes. Der Gaukler kennt nur einen Todfeind: die Stille. Lässt, er sie hochkommen, ist sein Inkasso in Gefahr. Darum lieber zu viel als zu wenig kübeln. Der Chor der Animierten dankt es mit einem freudigen Dulledää, Dulledää • Lustgestöhn: Bitte noch mehr Animation! Also her mit den Inhalten! Keiner ist dümmlich genug, um nicht von dem bereitstehenden Arsenal elektronischer Gebetsmühlen und Tauchvergolder zu höheren  Wahrheiten aufgeblasen werden zu können. Alles, was hundertfach wiederholt wird, ist die Wahrheit. Dädelu-dibab-dibop. In der Folge werden nun verschiedene Marktbereiche der Hoffnungs-­ und Trostmit-telindustrie leicht verfremdet vorgezeigt, welche möglichst viele Bedürfnisse der Anima abzudecken trachten. Der Animierte darf nicht auf die Idee kommen, ihm fehle etwas. So wird fleißig geackert und gerackert, es wachsen die Wucherungen. Was wird gewünscht? Seelenfett oder sinfonisches Getümmel? Tranquillizer oder Amphetamine? Potenzmittel oder Trostpflaster? Keine Bange, die Gauklerbranche hat für alle Bedürfnisse das Pas­sende auf Lager. Im Notfall wird schnell nachgebessert, schließlich ist man kreativ. Es entbrennen Materialschlachten um die Anima, Habsuchtbatallione kämpfen um die Herrschaft. Nur wer sehn-süchtig macht (das Rauschgift ist der Ohrwurm), darf auf geregeltes Einkommen hoffen. Ist die Sucht einmal hergestellt, lässt das buhlende Bemühen um die Anima nach, die Money-Rufe hingegen werden immer dringlicher. Die Habsuchtfantasien entladen sich in einem Plünderorgasmus, zu dem hungrige Wildschweine ihre Gaststimme leihen. Danach hat sichs ausgeplündert. Dort, wo man gestern im großen Stil abgeräumt hat, ist heute alles niedergetrampelt, und nichts wächst mehr, da helfen keine Kroko-dilstränen. Der Glanz des Anfangs war schon lange vorher weg, die Plünderhoffnung hat sich verbraucht. Aber es bleibt noch die Hoffnung auf ein Revival, die Habsucht sucht weiter bis zuletzt.

Das alles besingt die Habsucht-Kantate. Sie stellt aber auch ihren Hersteller vor oder bloß, welcher sich vor einem Vierteljahr-hundert in dem Gewerbe, das den schönen Schein produziert, als Notensklave verdingte, welcher nach diesen 25 Jahren dieses Gewerbe nicht mehr ertragen kann, welcher den massiven Ekel, von dem er heimgesucht wird, dadurch zu bewältigen trachtet, dass er ihn musikalisch darstellt, welcher sodann, bevor er seinem Money-Suchgerät (einem Kontrabass) für hoffentlich immer entsagt, noch einmal seine Gaukelspiele abspult, mit denen er früher zu beein­drucken verstand, sie speichert, um damit die Animationsmaschinen zu füttern, die diese Individualneurosen zu kollektiven Wahnideen aufblasen. Denn irgend ein Gaukelspiel muss weiterlaufen: The show must go on. Des weiteren wurden verfüttert: die menschli­che Stimme (meine), Sexualgestöhn (nicht meines), Trompete (anti­ke Aufnahme), sowie das Greinen und Geschrei einer Kindertrompete. Stimme und Kontrabass, auch beide gemeinsam eingespeichert, überwiegen. Es ist selbstverständlich, dass die Habsucht-Kantate vom sinfonischen Geiste trieft, dem der Hersteller so lange ausgesetzt war, gilt es doch die Geister zu beschwören, die man bannen will. So dürfte ein Kenner sinfonischer Formen in dem Stück unschwer die aufgelockerte Form eines Rondos wiederfinden, welche ständig wieder-kehrende Elemente mit nur vorübergehend erscheinenden verknüpft. Auch ist eine gewisse Nähe zum Jazz spürbar, in dem der Autor einmal die Freiheit suchte, aber dann doch bloß andere Zwänge vorfand. Zu ihnen gehört ein durchgehender Puls, manch-mal offen, mal verdeckt, oft auch vertrackt. Der Maschinentakt ist nicht immer intakt.

Wenngleich jedes Gaukelspiel, so gut und raffiniert es auch immer angelegt sein mag, letztendlich seinen Zauber verliert und damit ins Leere läuft, ist doch eines gewiss: Beim Untergang der Titanic spielt die Kapelle bis zuletzt. Und Plünderer geistern durchs Schiff: Habsucht sucht -- Habsucht sucht.

                                                                                                                                                                                      Dez. 89

 

Nachtrag: Bei diesem Stück lässt die Reduzierung auf 2 Kanäle (original 4-kanalig) das Gewusel der rhythmisch auseinanderlaufenden Motive die Durchhörbarkeit schmälern.

 

Die Habsuchtkantate.mp3
MP3-Audiodatei [26.3 MB]

 

 

Die Krone der Erbärmlichkeit

 

Im Jahre 1987 sickerte die Erbärmlichkeit wie ein Wasserschaden in mein Studio und es gelang mir in der Folgezeit nicht mehr, das Leck abzudichten, geschweige denn sie daraus  wieder zu vertreiben. Besser gesagt, war sie wohl schon immer dort heimisch gewesen und es war mir all die Jahre vorher lediglich gelungen, sie einigermaßen erfolgreich aus meinem Bewusstsein zu verdrängen: zählt es doch zu den Geschäftsgrundlagen eines Kulturgauklers, den Glauben an die Krone der Schöpfung aufrechtzuhalten und zu mehren. Dieser Glaube an Fortschritt und Machbarkeit hatte zwar schon vorher -- zuletzt durch Tschernobyl -- Schrammen abbekommen, aber in meinem eigenen Maschinenkult hielt ich noch daran fest. Aber was selbst ein berstender Atomreaktor nicht vermochte, das gelang der Blockflöte.

In dem Stockwerk über meinem Studio hatte sich eine Ärztin eingemietet, welche nach ehelichen Gewalttätigkeiten aus der gemeinsamen Villa geflüchtet war und in der Not  nur diese unstandesgemäße Wohnung gefunden hatte. (Sie zog zu meinem Glück bald wieder aus). Diese Frau, die ich nur als ein vor Angst flatterndes Huhn kennenlernte, spielte jeden Abend nach Heimkehr von der Praxis zur Nervenberuhigung, wie sie sagte, auf ihrer Blockflöte Kinder- und Volkslieder einfacher bis einfältiger Machart. Sie spielte mit leisem, frommen, zittrigen Ton, kaum hörbar in meinem abgedichteten Studio. So leise ihre Töne auch waren, ihre Botschaft griff direkt ans Herz: Bitte tut mir doch nichts! Ich bin doch so klein, so harmlos, so machtlos! Ich bin doch so erbärmlich! Ich hockte derweil an meinen elektronischen Potenzverstärkern und bearbeitete das herbe Klangmaterial, mit dem ich unserer Liebe zur Autobahn Ausdruck verlieh. Mir stand der gesamte Apparat des akustischen Overkill zur Verfügung, doch das tägliche Winseln der Blockflöte konnte ich damit allenfalls vorübergehend übertönen, nicht jedoch bannen. Bei jeder Pause drang die sanfte Gewalt der Erbärmlichkeit wieder leise vor, mich mit Schuldgefühlen plagend. Die Erbärmlichkeit ergriff von mir Besitz. War nicht ich bei diesem musikalischen Wettstreit mit all meinen akustischen Machtmitteln der Erbärmlichere, dass mich leise Flötentöne lähmten? Alle Erwägungen halfen nichts: Die Macht der Erbärmlichkeit lastete auf meinem Studio. Ich musste mich mit ihr gut stellen. Ich musste mich musikalisch auf sie einlassen. Nur so hatte ich eine Chance, sie zu bewältigen: Ich musste sie beschwören um sie zu  bannen.

Die Klangquellen, die ich zur Realisation des Stücks heranzog, lassen an Erbärmlichkeit kaum Wünsche offen. Es sind von mir gespielt oder gesungen zu hören: ein Fuchsschwanz als Singende Säge, verschiedene Flöten, Pfeife und ein Drehbanjo aus der Mickimaus-Plastikserie für Kinder, ein einseitiges indisches Kürbisinstrument metallisch geschlagen, der Gesang ins Wasser - somit wortlos, sowie Dauertöne gestrichen auf dem Metallgitter eines Einkaufswagens vom Supermarkt. Auch ist ein Gast-Star dabei, der unsere Lebensumstände sympathisch findet, sie zumindest nicht meidet, dessen Kommentar dazu sich allerdings Interpretationsversuchen entzieht: es ist die Stubenfliege. 

Diese Welt der Empfindungen trifft auf die Welt der Maschinen: zum einen immaterielle Klänge, zerfließend und etwas schmierig, Ausdruck geheimer Sehnsüchte, die in der Ferne auf Erfüllung hoffen, das Zuckerbrot der Maschinen; zum anderen der real exis-tierende Maschinentakt als das Prokrustesbett unserer schöpferischen Fantasie, die Gefühlswelt vermessend und renormierend, dazwischenfahrend und dreinschlagend, dabei kleinhackend was übersteht. Es handelt sich um ein Relikt aus der Synthesizer-Steinzeit (ca. 1976), welches ich für dieses Stück dem Vergessen entriss. Zu hören sind gefilterte Rauschimpulse, von Oscilla-toren gesteuert, die sich wiederum wechselseitig steuern. Im Verlauf des Stückes tauchen verschiedene Varianten der gleichen Grundschaltung auf, welches versucht ein Grundprinzip alles Lebendigen -- die Wiederkehr des Immergleichen in immer neuen Variationen -- auf die Maschinen zu übertragen, die Maschinen sozusagen zu animieren (beseelen). Die beiden Welten - die der menschlichen Empfindungen und die der Zwänge seiner Maschinen - versuchen zusammenzukommen, können es aber nicht, der Wassergesang steht dem entgegen. Der verhaltene Anfang des Stücks stellt diese beiden Welten so unversöhnlich gegenüber -- etwa als Schäferidyll mit angrenzendem Schießplatz und einem Tümpel im Bombenkrater --, dass ich als Komponist das Stück nach den ersten fünf Minuten, in denen das Klangmaterial vorgestellt wird, selber aufgeben wollte mit der Überzeugung: das ist zu unmöglich, das bringst du nicht zu Ende, hier läuft gar nichts zusammen.

Dann aber schreckte ich doch vor der allerletzten Erbärmlichkeit zurück, das Stück ohne wirklich triftigen Grund, d.h. ohne unerträg-lichen Leidensdruck einfach aufzugeben, wollte noch einen Versuch wagen, und siehe da: es lief recht unproblematisch weiter (nur der Schluss machte noch Schwierigkeiten) und wurde eine meiner längsten Kompositionen, was allerdings auch durch das langsame Zeitmaß begünstigt wird, welches sich im ganzen Stück nur wenig verändert. So wie bis dahin kann das Stück allerdings nicht weiter-gehen. Die Gemeinde der Idylliker kann nicht länger mit der Beschwörung einer heilen Welt den Schießplatz nebenan verdrängen. Schließlich möchte man auf das Zuckerbrot der Maschinen auch nicht verzichten, die uns die Befreiung von Rackerei verheißen. Endlich stehen den Herrenmenschen die idealen Sklaven zu Diensten: das ist das Kalkül. Wie sich verhalten einem Machtmittel gegenüber, das zugleich Verheißung und Bedrohung ist? Da ist die holde Eintracht bald dahin, und das unschuldige Getue verwan-delt sich in zänkisches Gezerfe. Die unterschiedlichen Strategien, der Herausforderung zu begegnen, verdichten sich zu neurotischer Zwanghaftigkeit. Sollen wir uns den Maschinen anpassen, oder sollen sich die Maschinen uns anpassen? Die Probleme, die die Maschinen schaffen, können nur durch noch mehr und noch bessere Maschinen wieder gelöst werden. Natürlich kann man die Maschinen auch mal abschalten. Mal sehen, ob man so zum verlorenen Paradies zurückfindet. Aber die Maschinensklaven haben sich bereits voll in unser Suchtspektrum integriert, sie sind zu einem unverzichtbaren Potenzmittel geworden. Es ist die Geschichte vom Zauberlehrling und seinem fleißigen Besen. Die einzige Möglichkeit, die noch bleibt, ist Dosis und Kaliber zu erhöhen. Es bietet sich aber noch hinreichend Gelegenheit, sich an seinem selbst geschaffenen Elend, das man für sein Glück hält, aufzugeilen. Ein Thema mit Variationen. Klar ist nur: Die Versöhnung kann nicht gelingen. Sieger bleibt die Erbärmlichkeit. Hephaistos hat nämlich beim Anschmieden des Prometheus an den Felsen das Rostschutzmittel vergessen.

Eines aber bleibt mir selber noch unklar: Habe ich mit diesem apokryphen Stück die höchste Stufe der Erbärmlichkeit bereits erreicht, oder kommt die erst später? Ist das Ganze womöglich bloß wieder ein neuer Gauklertrick der Krone der Schöpfung?: Der König und seine neuen Kleider, das härene Gewand, die Saccos in Asche gefärbt, die neue Erbärmlichkeitsserie von der Firma Boss & Co., Gebrauchsmusterschutz angemeldet. Diese Mode gab’s nämlich schon mal im Mittelalter.

 

Merke: Nach dem Gloria kommt das Quid sum miser.

 

 Bild oben von Frantisek Kupka

                                                                                                                                                                                      Febr.91

 

 

Die Krone der Erbärmlichkeit.mp3
MP3-Audiodatei [28.8 MB]

 

 

 


Kassandra

 

                                                                                                                              Kupferstich von Philippe Mohlitz: Le grand désordre

 

Kassandra ist eine Herausforderung für die Männerwelt: Schrill und sensibel zugleich, attraktiv und selbstbewußt schockt sie auf ihre überdrehte, ganz und gar „unmögliche" Art die werbenden Männer mit ihrem Nein. Sie liebt das Nein über alles, es ist ihre einzige Möglichkeit als Königstochter im Patriarchat nicht als Handelsobjekt eines politischen Schachers zu verkommen. Kassandra möchte selber dominieren, Unterwerfung liegt ihr nicht. Angesichts ihres hohen gesellschaftlichen Stellenwerts und der politischen Bedeutung ihrer Eskapaden, muss dieser äußerst delikate Fall von Insubordination auf allerhöchster Ebene entschieden und gelöst werden. Es ist ein Fall für ApolI, den Heldentenor unter den Göttern. Nur er könnte es schaffen, ihr die Flausen auszutreiben und sie zu einem gefügigen Instrument zu machen. An Kassandra soll und möchte er seine Potenz bewei-sen. Um sie rumzukriegen, überreicht er ihr als Werbegeschenk die Gabe der Präkognition, der untrüglichen Vorhersage künftiger Ereignisse. Mit diesem Geschenk hat Apoll ins Schwarze getroffen, ist es doch ihr Herzenswunsch, immer alles im voraus und dann auch noch besser wissen zu wollen. Dieses Geschenk kann sie unmöglich zurückweisen, erlangt sie damit doch das Grund-kapital für ein mögliches Multimilliardengeschäft: Man denke nur daran, dass ganz Delphi von seinem Orakelkonzern lebte, und den besten Geheimdienst Griechenlands von seinen Einnahmen unterhielt. Aber sich der Macht unterwerfen, den erlangten Vorteil sexuell abzuarbeiten, das geht gegen ihr Selbstverständnis. Mögen sich auch alle anderen Frauen Griechenlands danach sehnen, dem Apoll die Beine breit zu machen: sie nicht! Dieser machtgierige Langeweiler und kriegslüsterne Potenzprotz mit seiner Wehrdienstmusik auf der Kithara ist und bleibt ihr ein Greuel. Sie schleudert dem Gott ihr geliebtes Nein entgegen, und der Hass hat Folgen: Apoll kann zwar sein Geschenk nicht einfach kassieren, da die Götter verpflichtet sind, Verträge und Abma-chungen zu hüten, er kann aber dafür sorgen, dass die verliehene Gabe ihr keinen Machtgewinn beschert, ihr vielmehr zum Fluch wird. Weil sie sich dem Beischlaf mit der Macht entzog, ihr somit die Absegnung von „oben" fehlt, glaubt ihr einfach keiner. Mögen ihre Voraussagen in der Vergangenheit stets zutreffend gewesen sein - diesmal irrt sie sich! Ihre Visionen sind voll des Grauens und bar der Hoffnung, das macht sie unerwünscht. Ihre Warnungen sind nicht attraktiv, nicht geil. Geil ist das von den abgezo-genen Belagerern draußen vor den Stadtmauern als Kriegslist hinterlassene hölzerne Pferd, Superfetisch des raumgreifenden Freiheitsdrangs, den auszuleben sich die seit zehn Jahren Belagerten allzu lange versagen mussten.

Nach dem scheinbaren Abzug der Belagerer jetzt wieder frei in der Gegend herumrasen zu können, diesem Wunschtraum der Eingeschlossenen hält Kassandra ihre düsteren Gesichte entgegen: Lasst die Pferdestärke nicht in die Stadt! Sie ist bloß ein schmutziger Trick und bringt uns Verderben! Gegen ihren einzigen Mitwarner Laokoon mitsamt Söhnen setzt Apoll die Schlangen in Marsch. Mit diesem geschickten Menschenopfer ist Kassandra endgültig als Miesmacherin desavouiert, die doch bloß die heiß ersehnte Kriegsbeute madig machen möchte. Es lohnt nicht, weiter auf sie zu hören! Apoll hat gezeigt, was von ihren Warnungen zu halten ist. Schließlich ist Apoll der Gott und Kassandra lediglich eine ausgeflippte Hysterikerin. Die spinnt doch!

 

Kassandra spinnt noch in diesem Musikstück weiter. Ihre Botschaft schmeichelt den Ohren nicht. Kein Wunder, wenn man sie nicht hören mag. Die Musik schildert keine äußeren historische Abläufe, ist also nichts weniger als Programmmusik. Sie versucht vielmehr das Psychogramm der seelischen Vorgänge einer Hysterie zu zeigen. Die Übererregbarkeit bringt eine verstimmte Zither zum Ausdruck, auf der ich in der Art einer „musique automatique“ mit zwei geeigneten Mikrofonen in manischen Zitterbewe-gungen direkt an den Saiten scharrte und zupfte – ein Vorgang, der bewusste Gestaltung eher unterdrückt und Unbewusstes fördert. Diese innere Rappelenergie stürzt bisweilen recht jäh ins Depressive ab. Das Muschelhorn, von einem Freund gespielt, stellt diesen Gegenpol dar. Grell und außergewöhnlich wie die Ausstrahlung ihres Charakters, die einst Apoll so faszinierte, sind die Speichenklänge: mit einem Bogen dem Fahrrad abgerungen. Ein metallisch geschlagenes Monocord schleudert das auf-trumpfende Nein einer Existenz heraus, die sich nur in der Negation realisieren und behaupten kann. Der Geltungsdrang, Motor ihrer Maßlosigkeit, bricht sich in den solistischen Ambitionen eines verhinderten Kontrabassvirtuosen Bahn, der endlich auch einmal dominieren möchte (und zwar nicht nur im Stimmzimmer !), der allerdings ständig mit seiner realen Planstellenexistenz als das Tuttistenschwein Gotthilf Kratzefest vom Trojanischen Sinfonieorchester konfrontiert wird, wo er am letzten Pult gelegentlich mal die Sau rauslassen darf: an der leeren G-Saite natürlich, weil die am hässlichsten klingt.

Mag an Kassandra auch alles außergewöhnlich grell und schreiend wirken, ihre Stimme ist es nicht. Das unterscheidet sie von der Xantippe, die auch schon immer alles besser wusste und Sokrates zum Eingeständnis seiner Unwissenheit zwang. Kassandra ist die übersensible Seherin und keine streitsüchtige Zerfe für den Ehealltag. Ihr Warn- und Jammergestöhn zeugt von unterdrückter Erregung, der das offene Herausschreien versagt ist.

 

Wer sich für das traurige Ende der Kassandra interessiert, dem sei es hier zur Warnung aller emanzipierter Frauen nachgetra-gen: Kassandra hat rechtbehalten. Die Götter waren linke Intriganten und Troja steht in Flammen. Kassandra flüchtet in den Tempel der Athene, wird dort aber vom Bild der Göttin weggerissen und vergewaltigt. Sie wird dem Agamemnon als Kriegsbeute zugeteilt und hat nunmehr als seine Lustsklavin immerfort Ja zu sagen. Die rechtmäßige Gattin Klytemnestra bereitet dem patri-archalischen Idyll ein jähes Ende, indem sie mit Hilfe wiederum ihres eigenen Liebhabers Ägisth beide beim Lustvollzug ertappt und ermordet.

 

Kassandra hatte wahrlich allen Grund, das Eheleben vermeiden zu wollen.

 

                                                                                                         Nov.91

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Stahlgewitter

 

In manischer Geschäftigkeit habe ich zweifach mit einem Stahlplektrum die verstimmten Saiten einer Zither erregt. Bei diesem Nachtrag handelt es sich um eine Reliquie aus dem Material von „Kassandra“ 1991, die damals keine Verwendung fand.

In der Totalität des Klangspektrums bei gleichbleibender Intensität ist schon der Absturz von sinfonischem Denken zur Wenigstenz des tibetischen Instrumentariums und seiner meditativen Praxis in der folgenden Zeit vorgezeichnet. Es handelt sich dort um das esoterische Äquivalent der Minimal Art ohne diese erdrückende Klangfülle hier.                                   3´25´´  

            

 

                                                                                                                                                                          Collage von Hermann Beck

 

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