Theoretisches zur Situation der Musik
Die musikalische Produktionsweise und ihr Zeitbegiff
Musik ist die Kunst in der Zeit. Diese wird wahrnehmbar in dem Urprinzip allen Lebens, dem der Spannung und Entspannung: Ein spannungsloser Zustand ist nur in der Zeitlosigkeit denkbar. In wie weit hat sich nun die Musik, die von allen Bereichen der Ästhetik in der Erzeugung von Spannung und Entspannung der Zeit am unmittelbarsten verhaftet ist, der Zeit selbst entfremdet? In wie weit ist diese Entfremdung, die sich im Verhältnis des Musikproduzenten zum Musikkonsumenten widerspiegelt, das Ergebnis der musikalischen Produktionsverhältnisse, und in wie weit ist heute durch die Änderung derselben die Aufhebung der Entfremdung und ein neues Verhältnis zur Zeit möglich? Betrachten wir nun die heutigen etablierten Produktionsformen und ihre tendenzielle Entwicklung.
In der europäischen Musiktradition hat sich im Laufe der Zeit das Prinzip der Arbeitsteilung durchgesetzt. Die primäre schöp-ferische Arbeit wurde von der sekundären interpretatorischen getrennt, damit auch der Zeitpunkt der Entstehung von dem Zeitpunkt der Aufführung. Diese Trennung bedingt, daß ein Verhältnis zurzeit als direkte, aktuelle Gegenwart nicht entstehen kann, daß die Zeit vielmehr – ähnlich wie bei einem Theaterstück – auf die rein mediale Funktion einer Projektionsebene reduziert wird, welche notwendig ist, um den formalen Aufbau und Ablauf eines Werkes akustisch darzustellen. Die festgelegte Form, anhand eines solchen Musik“stückes“ beliebig oft reproduzierbar, verselbständigt sich und degradiert die Zeit zum Wahrneh-mungsmodus. Diese ist „ein quasi sekundäres Ergebnis der entwickelten Form“, die „erst bei der Aufführung als notwendige Folge der - von geplanter Struktur in realen Klang wirklich in Erscheinung tritt.“1) Dieses Verhältnis der Form zur Zeit und die Trennung von Entstehen und Erklingen haben der europäischen Musik im Laufe ihrer Geschichte unerhörte formale und klangliche Möglichkeiten gebracht, dadurch, daß der ganze Bereich des Klangmaterials dem Formwillen des Einzelnen verfügbar wurde, und dieser, nur begrenzt durch dieses Klangmaterial, eine sonst unbegrenzte Freiheit genoß. Jedoch, die gesell-schaftlichen Verhältnisse ändern sich, uns mit ihnen unser Bewußtsein. So muß sich heute jeder Komponist fragen, ob seine Freiheit, die angesichts der Tatsache, daß er vermittels der Aufführung eine Vielzahl von Menschen (Orchester) zur Aufgabe des eigenen musikalische Willens und damit zur Unfreiheit verpflichtet, diejenige des Sonnenkönigs gegenüber seinen Untertanen ist, und ob diese Freiheit, die Unfreiheit erzeugt, und den Hörer zum passiven Konsumenten macht, im Musikstück die wahre Situation unserer gesellschaftlichen Unfreiheit reflektieren und bewußt machen kann, oder ob das Werk nicht dadurch einen illusionären Festspielcharakter erhält, dem Hörer einen affirmativen Wunschtraum der Freiheit zeigend, der über der Zeit steht, jedoch in der Zeit dargeboten wird.
Die Problematik dieser Freiheit ist erkannt: „Bloße Individualität tritt umso selbstherrlicher hervor, je schwächer das Ich gesellschaftlich und damit zugleich als ästhetisches Konstitutionsprinzip ward, je weniger es sich zur Objektivität eines Totalzu-sammenhangs zu entäußern vermag. Das Ich differenziert sich unendlich, indem es die eigene Schwäche reflektiert und zur Schau stellt, aber vermöge eben dieser Schwäche fällt es zugleich auf die Schicht des Vor-Ichlichen zurück.“ 2)
Letztlich zeitigt die Entwicklung: Formalismus, Material- und Notationsfetischismus.
Das neue musikalische Material nämlich, mit seinem Drang zur Atomisierung und Verselbständigung, widersetzt sich den Bestrebungen, zu einer formalen Einheit im Sinne eines „Stückes“ zusammengefügt zu werden, und verlangt nach einem neuen Zeitbezug. So sind in den letzten Jahren Komponisten darangegangen, das starre Zeitverhältnis ihrer Kompositionen aufzulockern, sei es, indem sie sie variabel anlegten, sei es, indem sie Aleatorik und Improvisation mit einplanten, und somit jede Realisation zu etwas Unwiederholbaren machten, und sie damit gegenüber dem kompositorischen Vorgang mehr in den Vordergrund rückten. Ohne daß ich näher darauf eingehen muß, liegt es jedoch auf der Hand, daß das entfremdete Zeitverhältnis damit nicht überwunden, sondern nur verschleiert ist. Diese Verschleierung kann den grundlegenden Widerspruch nicht verdecken: Ein vom direkten Zeitzusammenhang befreiter formaler Ablauf ist definierbar und determinierbar, nicht jedoch die Richtung und der Verlauf eines selbständigen musikalischen Ereignisses, welches unter zukünftigen Aufführungsbedingungen, die wir nicht kennen und einplanen können, unmittelbar der Zeit unterworfen ist. So beschränken sich in jüngster Zeit Komponisten darauf, Spielanleitungen manchmal technischer, manchmal psychologischer Natur zu geben. Aber ist das von der Seite des Komponisten her gesehen noch Selbstverwirklichung oder Selbstverleugnung? Die Komponisten, so scheint es, können das Zeitproblem als Komponisten nicht lösen.
Seit der Jahrhundertwende hat sich aus folkloristischen Anfängen eine Musizierpraxis entwickelt, die mit dem Mittel der Improvisation versucht, die Trennung von Produktion und Interpretation aufzuheben und ohne autoritären Reproduktionsapparat auszukommen. Doch auch der Jazz konnte bis jetzt die Zeitentfremdung der Musik nicht aufheben. Der Durchbruch zur Zeit als aktuelle Gegenwart, zu einer Musik, die als Folge aktueller Ereignisse die Zeit definiert und bewußt macht, gelang nur höchst unvollständig: Das musikalische Material, von der europäischen Kunstmusik übernommen, von ihr jedoch schon seit über einem halben Jahrhundert ad acta gelegt, ließ eine unmittelbare musikalische Beziehung der Musiker untereinander und zur Zeit nicht zu. An die Stelle der Komposition trat die verselbständigte starre Form, welche den einzelnen Musikern Funktionen zuteilte, deren Reglement bloß zu erfüllen ist, damit der Zusammenhang des Ganzen auf formalistischer Basis hergestellt wird. Die Form existiert bereits, bevor ein einziger Ton erklungen ist. Das Zeitverhältnis ist somit im Resultat das gleiche, wie das der komponierten Musik. Ein wirklicher Kontakt, der nur nichtformalistisch sein kann, wird dadurch erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Auch in seiner Entwicklung zur free form als jüngstem etablierten Stil ist es dem Jazz noch nicht gelungen, sich von formalistischen Konventionen zu trennen: Die Emanzipation des Materials ist noch nicht hinreichend fortgeschritten. Immer noch gibt es die Trennung in solistische und begleitende Funktion. Solistische Darbietungen ergeben sich nicht aus dem Zusammen-hang, sondern werden wie seit eh und je gleichsam als Perlen aneinandergereiht, und durch Tutti-Einsätze gegliedert, in denen mangelnder musikalischer Kontakt in gemeinschaftlichen hymnischen Ekstasen überspielt, und etwa noch unbewältigte Tonalität im Fortissimo verdrängt wird. Die größere Form, die durch solch konventionelle Gliederung erzielt wird, ist jedoch eine bloß äußerliche: Die Perlen und die Zwischenglieder werden aneinandergereiht, nicht jedoch mit einer Schnur verknüpft. Der Einzelne wird in bürokratischen Schemata festgelegt, die seine Vereinzelung nur scheinbar aufheben, in Wirklichkeit aber bekräftigen. Mangels einer höheren dialektischen Einheit kann er so nur immer wieder sich selbst reproduzieren. Nur an der Perlenschnur der Zeit – begriffen als „eine Folge von lauter Gegenwart“ und definiert und hörbar gemacht durch „mikrozeitliche Zustände“, die „unmittelbar den zeitlichen Verlauf abbilden“, und die „komplexe Momente wären, deren Räumlichkeit auf den jeweiligen Moment bezogen bleibt“ 3) – kann die Beziehungslosigkeit, erst einmal als solche erkannt, als bewußte Antithetik im dialektischen Sinne zur Einheit werden.
So wenig und so unvollkommen sich also ein neues Zeitverhältnis bis jetzt im Jazz hat durchsetzen können, die klar sich abzeichnende Entwicklung dahin wird von den Produktionsverhältnissen nicht unmöglich gemacht. Die Grundlagen für die erforderlichen neuen Hör- und Musizierqualitäten sind bei einer größeren Anzahl von Musikern gegeben. Was fehlt, ist das kritische Bewußtsein der eigenen Abhängigkeit von tief verwurzelter Konvention. Der Jazz müßste in einem noch nicht abzusehendem Maße auf die Eigenständigkeit verzichten, die auf der folkloristischen Regression des musikalischen Materials beruht.
Indem sich nun aufgrund der neuen Zeitlichkeit der Musik die Form von „innen“ her entwickelt, gleichsam als Summe der Klangereignisse sich ergibt, eine von „außen“ vorgegebene Form nicht mehr existiert, welche das Musikstück zur Ware macht, die dem zahlenden Publikum zwecks Konsum verkauft wird, rücken die die realen Aufführungsbedingungen, die zusammen mit den Produktionsverhältnissen den Warencharakter der Musik bewirken (beide bedingen sich dabei wechselseitig), ins Zentrum des Interesses. Nicht mehr länger kann die Darbietung und das Verhältnis zum Publikum in aller Unschuld als quantité négligeable betrachtet werden. Die aktuellen Aufführungsbedingungen müssen vielmehr bewußt gemacht und als Material in den musikalischen Zusammenhang integriert werden. Nicht ein abstrakter musikalischer Ablauf ist zu zeigen, sondern der musikalische Mensch selber in seiner Abhängigkeit von der Umwelt, wobei kein grundlegender Unterschied zwischen Mit-Musiker und Publikum besteht. Konkret bedeutet das die Einbeziehung öffentlicher Geräusche (auch solche vom Tonband) und die Hinwendung zur Theatralik. In wie weit auch andere ästhetische Bereiche mit einbezogen werden können, um das Geschehen zu intensivieren, und den ganzen sinnlichen Wahrnehmungsraum zu aktivieren, wäre zu erproben; grundsätzliche Hindernisse gibt es dafür aufgrund der antithetischen Anlage einer solchen Konzeption nicht.
Vielleicht sind somit heute die Bedingungen gegeben, von denen Richard Wagner in Einsicht der Widersprüche innerhalb seiner Konzeption des Gesamtkunstwerks spricht: „Niemand kann es gegenwärtiger sein als mir, daß die Verwirklichung des von mir gemeinten Dramas von Bedingungen abhängt, die nicht in dem Willen, ja selbst nicht in den Fähigkeiten des Einzelnen, sei diese auch unendlich größer als die meinige, sondern nur in einem gewissen Zustande und in einem durch ihn ermöglichten gemeinschaftlichen Zusammenwirken liegen, von denen jetzt gerade nur das volle Gegenteil vorhanden ist.“ 4)
J. Karg, Sept. 68